Ein Buch auf einem Holztisch.

Kim

von Rudyard Kipling


17.11.2023

  • Klassiker

Kim zählt neben dem Dschungelbuch zu Rudyard Kiplings wahrscheinlich bekanntesten Erzählungen. Doch kann diese farbenprächtige Schilderung eines längst vergangenen Indiens auch heute noch die Leser in ihren Bann ziehen?

Grenzgänger und Freigeist

Unsere Geschichte führt uns auf die Straßen Lahores (damals Indien, heute Pakistan). Der dreizehnjährige Waisenjunge Kim (Kimball O´Hara, sein Vater war irischer Soldat) schlägt sich vor allem dank seines losen Mundwerks (Wer schweigt, der stirbt) und der richtigen Intuition recht erfolgreich durch die Slums seiner Stadt. Rein äußerlich unterscheidet ihn nichts von den anderen Jungs aus seinem Slum.


“Wer stumm bettelt, stirbt stumm”

— Rudyard Kipling, Kim (S.25)

Doch dann begegnet er dem tibetanischen Teshoo Lama, begleitet ihn auf seiner Suche nach einem religiös bedeutsamen Fluss und wird schließlich sein Schüler (Chela). Eines Tages treffen sie dabei jedoch auf das ehemalige Regiment seines Vaters. Nachdem Kim seine Herkunft nachweisen kann, wird er schließlich auf eine katholische Schule geschickt.

Jedoch dauert es nicht lange, bis sein Potential als Grenzgänger zwischen den Kulturen und Religionen erkannt wird und er als Spielfigur im „Großen Spiel“ zwischen Russland und Großbritannien eingesetzt wird. Doch wird Kim jemals seinen eigenen Weg gehen können?

Eigener Erfahrungsschatz

Wie kein Zweiter eignete sich Rudyard Kipling als Urheber dieses Stoffes – konnte er doch dabei auf Erfahrungen aus erster Hand zurückgreifen. Nach seiner Geburt im Jahre 1865 in Bombay verbrachte er seine ersten fünf Lebensjahre in Indien. Danach wurde er einer Pflegefamilie in England anvertraut, die dieses Vertrauen mit körperlichen und geistigen Misshandlungen zurückzahlte.

Dennoch kehrte er erst nach Abschluss seiner Schulausbildung im Jahre 1882 nach Indien zurück. Hielt er sich zunächst noch mit einfachen journalistischen Tätigkeiten über Wasser, so fanden seine ersten Romane schnell großen Anklang. 1889 folgte wiederum die Rückkehr nach England, der sich eine höchst produktive Phase seines Schaffens anschloss – unter anderem erschien 1894 das Dschungelbuch.

Kim selbst erschien 1900/1901 zunächst als Fortsetzungsroman im McClure`s Magazine (USA) und Cassell´s Magazine (England). 1901 folgte dann eine Fassung in gebündelter Romanform. 1907 wurde ihm schließlich als ersten englischsprachigen und mit 41 Jahren – bis heute – jüngsten Schriftsteller der Literaturnobelpreis verliehen.

Vielfältige und bunte Welt

Und es fällt einem wirklich nicht schwer zu verstehen, warum sich Kipling so großer Beliebtheit erfreute. Ausgehend von einem allwissenden Erzähler – der besonders im Rahmen von Zeitsprüngen relevant wird – treffen wir auf eine Welt, wie sie bunter und vielfältiger nicht hätte sein können.

Wir durchwandern Gebiete des heutigen Indiens und Pakistans und werden von Kipling mit zahllosen Religionen, Kulturen, Gebräuchen, Kastensystemen, geographischen Gegebenheiten, Sprachen und Dialekten überhäuft. Gäbe es nicht im ergiebigen Anhang entsprechende Erläuterungen, so wäre man als europäischer Leser wohl hoffnungslos überfordert.

Dabei gelingt ihm ein schwieriger Balance-Akt: Einerseits nähert er sich jedem einzelnen Aspekt sehr einfühlsam und respektvoll, andererseits nutzt er den Clash der Kulturen immer wieder als Ausgangsbasis für überaus unterhaltsame Szenen.

Starke Hauptfigur – Starkes Figurenensemble

Dass ihm dies gelingt, liegt sicherlich auch an seinem äußerst vielfältigen und liebenswerten Figurenensemble, das unbestritten von seiner Hauptfigur Kim angeführt wird. Als Grenzgänger zwischen den Fronten ist er nirgendwo richtig beheimatet und wandert zwischen den Linien, sei es zwischen der geistigen Welt des Lamas und der weltlichen Außenwelt oder zwischen seiner britischen und indischen Identität. Gerade weil er nirgendwo richtig eingeordnet werden kann und sich dennoch in allen Kreisen frei bewegen kann, ist er ein leuchtendes Beispiel für Toleranz und Frieden – sowohl in aktiver als auch in passiver Position.

Das restliche Figurenensemble so umfangreich und gleichzeitig so interessant, dass eine umfangreiche Aufzählung den Umfang dieser Rezension sprengen würde. Jede einzelne Figur hat dabei eine eigene Hintergrundgeschichte, die oftmals Stoff für eigene Romane bereithalten würde, und füllt diese Erzählung mit Leben. Man denke daher nur stichwortweise an den afghanischen Pferdehändler Mahbub Ali, den britischen Offizier Creighton oder die tragische Lispeth.

Lebendige Dialoge

Ein weiteres wichtiges Element bilden die gelungenen Dialoge dar. Im Original bedient sich Kipling zahlreicher Dialekte und lässt sein umfangreiches Figurenensemble je nach Herkunft und Bildungsstand sehr unterschiedlich sprechen. Eine genaue 1:1 Umsetzung im Rahmen einer Übersetzung ist dabei natürlich unmöglich. Allerdings hat der Übersetzer Andreas Nohl ganze Arbeit geleistet und zumindest andeutungsweise bekommen wir dank seiner Übersetzung auch in der deutschen Fassung einen Eindruck von der Vielfalt von Kiplings Indien.

Britischer Imperialismus?

“Kritiker” werfen Rudyard Kipling und diesem Roman vor, den britischen Imperialismus zu zelebrieren. Jedenfalls für diesen Roman kann man dies nicht gelten lassen. Natürlich kann man sehr kleinlich sein und einige verwendete Stereotype hervorheben. Dann könnte man auch behaupten, dass die Nachteile der britischen Herrschaft nicht ausreichend gewürdigt wurden.

Ach tatsächlich? Potzblitz, dass die Unterdrückung ganzer Völker Nachteile mit sich bringt – wer hätte das wohl ahnen können? Danke Captain Obvious, ich bin mir sicher, dass der Verlag dieser Anregung künftig durch eine Trigger Warnung gerecht werden kann!

Was bleibt?

Kim von Rudyard Kipling ist ein erstaunlich unterhaltsamer Roman, der das alte Indien vor den Augen der Leser wieder aufleben lässt. Spielerisch gelingt es Kipling, das alte Indien in all seiner Vielfalt darzustellen und den Leser damit in eine längst vergangene Welt einzusaugen. Dabei helfen ihm packende und hervorragend übersetzte Dialoge, ein starkes Figurenensemble und viel Geist und Witz.

Es fällt mir dennoch schwer, den Roman einer bestimmten Kategorie zuzuordnen. Trotz durchaus vorhandener Action-Szenen und Spannung ist das Erzähltempo insgesamt zu langsam für eine Abenteuergeschichte im klassischen Sinne. Dafür gibt es auf der anderen Seite wiederum Elemente eines lupenreinen Spionagethrillers. Elemente eines Bildungs- oder Entwicklungsromans sind erkennbar, allerdings weicht Kipling auch hier am Ende zu stark von klassischen Mustern ab.

Aber ist das wirklich wichtig? Wer auf der Suche nach einem gemächlicheren „Abenteuerroman“ ist, wird hier voll auf seine Kosten kommen, egal wie man den Roman am Ende einordnet.

Gewohnt hochwertiger Klassiker

Wie jede Klassiker-Neuübersetzung aus dem Hanser-Verlag entspricht auch diese Ausgabe höchsten bibliophilen Ansprüchen. Neben dem obligatorischen Leineneinband mitsamt Titelschild und Silberprägung dürfen wir uns über farblich passende Lesebänder und eine Fadenheftung freuen. Dieses Mal handelt es sich allerdings um kein Dünndruckpapier – angesichts der knapp 500 Seiten haben wir es dennoch mit einer gewohnt kompakten Ausgabe zu tun. Im Vorsatz finden wir noch eine Karte von Kims Reise, während wir im Nachsatz das Buddhistische Rad des Lebens finden.

Auch dieses Mal kann der Anhang überzeugen, auch wenn er mit „nur“ knapp sechzig Seiten etwas kleiner ausfällt als gewohnt. So finden wir hier eine Kurzgeschichte, die einen Handlungsstrang des Romans aufgreift, ein kurzes Nachwort des Übersetzers Andreas Nohl und einen zum Verständnis des Romans hilfreichen Anmerkungsapparat.

Pro/Contra

Pro
  • Vielfältiges und liebenswertes Figurenensemble
  • Bunte und lebendige Welt
  • Starke Dialoge
Contra
  • Kein Abenteuerroman im herkömmlichen Sinne

Fazit


Kim von Rudyard Kipling ist ein faszinierender, bunter und vielfältiger Roman, der sich jeder eindeutigen Zuordnung entzieht. Lesenswert!

autor: Rudyard Kipling

Titel: Kim

Seiten: 512

Erscheinungsdatum: 2015 (1901)

Verlag: Hanser Verlag

ISBN: 9783446247314

übersetzer: Andreas Nohl

illustratorIn: –

Reihe: Hanser Klassiker

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