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Vier Begegnungen

von Henry James


25.11.2022

  • Klassiker

In Vier Begegnungen thematisiert Henry James das ambivalente Verhältnis zwischen Amerikanern und Europäern. Doch wie aktuell sind seine Gedanken in unserer heutigen Zeit?

Europäisch-Amerikanische Begegnungen

Den Auftakt dieser Kurzgeschichtensammlung bildet mit Tragödie eines Irrtums James erste veröffentlichte Geschichte überhaupt. Wir begegnen darin der jungen Hortense Bernier, die in einer ausweglosen Situation zu stecken scheint: Ihr Mann kommt nach zweijähriger Abwesenheit aus Amerika zurück – doch wie soll sie ihm ihre allseits bekannte Affäre verheimlichen? In ihrer Verzweiflung greift sie schließlich zu drastischen Maßnahmen, doch nicht alles läuft nach Plan…

Die titelgebende Geschichte Vier Begegnungen schildert – welch Überraschung – die vier Begegnungen, die unser namenloser Protagonist im Laufe seines Lebens mit der schüchternen Caroline Spencer hat. Begegnet er anfangs noch einer hoffnungsvollen jungen Frau, so muss er im mit den Jahren ernüchtert feststellen, wie sehr sich ein Mensch von seinem Umfeld beeinflussen lassen kann…

Die dritte Geschichte Wie man es sieht stellt eine Erzählung in Briefform dar. Die junge Aurora Church versucht – nach erfolglosen Anläufen in Europa – in Amerika ihr Glück in Form eines Ehemannes zu finden und erregt dabei tatsächlich die Aufmerksamkeit zweier vielversprechender Kandidaten. Hat sie trotz der unübersehbaren kulturellen Unterschiede Erfolg?

Die abschließende Geschichte Pandora handelt vom jungen deutschen Diplomaten Graf Vogelstein, der zum Antritt seines Dienstpostens den Atlantik überqueren muss. Dabei begegnet er der jungen Pandora, die sich völlig seinem Verständnis verschließt und vermutlich gerade deswegen sein Interesse weckt. Als er ihr Jahre später wieder begegnet, verliebt er sich schließlich in sie, doch versteht er sie auch?

Leben zwischen den Kontinenten

Henry James wurde 1843 in New York als Sohn einer einflussreichen Familie geboren – sein Vater war Intellektueller mit einem Freundeskreis, der unter anderem Henry David Thoreau und Nathaniel Hawthorne umfasste, sein Bruder William James ein heute noch bedeutender Philosoph.

Schon von frühester Kindheit an pendelte er zwischen Europa und Amerika und konnte viele bekannten Städten beider Kontinente sein Zuhause nennen. Als Reaktion auf die Nichteinmischungspolitik der Vereinigten Staaten im Rahmen des Ersten Weltkrieges wurde er 1915, ein Jahr vor seinem Tod, sogar britischer Staatsbürger.

Dieser beständige Wechsel zwischen der alten Welt in Europa und der neuen Welt in Amerika sollte sich auch durch sein literarisches Werk ziehen und mal mehr, mal weniger intensiv zum Vorschein kommen. Seine Geschichten schildern von kulturellen Missverständnissen geprägte Begegnungen der alten und neuen Welt, die zwischen Tragik und Humor hin und her pendeln.

Stilistisch herausragend

Henry James erweist sich dabei einmal mehr als begnadeter und feinsinniger Erzähler, der auf unterschiedlichen Ebenen zu begeistern weiß. Zum einen zeichnet ihn sein gutes Gespür für den Einsatz von Humor aus. Alle seine Erzählungen durchzieht ein beinahe schon ironischer Erzählton, der dem Leser immer wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Dabei greift er glücklicherweise jedoch nicht auf Slapstick-Einlagen oder Plattitüden zurück, sondern wahrt immer einen gewissen Respekt vor seinen Figuren und ihren Gefühlen.

Daneben begeistert vor allem in seinen späteren Geschichten die Darstellung der Gedankenwelt seiner Protagonisten. Auch wenn diese nicht die Ausmaße einer Virginia Woolf einnehmen, so versteht es James, uns in die Gedanken seiner – zumeist weiblichen – Figuren eintauchen zu lassen. Diese erweisen sich als genaue Beobachter, denen es zwar an Worten fehlt, um die doch spürbaren Unterschiede auszudrücken, deren Gedankenwelt dafür umso aufschlussreicher ist.

Die Geschichten im Einzelnen

Da die Geschichten einen breiten Zeitraum seines literarischen Schaffens umfassen, bietet sich auch ein kurzer vergleichender Blick an, den ich dazu nutze, um auf die jeweiligen Feinheiten einzugehen.

Sein literarisches Debüt Tragödie eines Irrtums erschien im Jahre 1864 und entpuppt sich als tragisch-komische Geschichte, die vor allem durch den gelungenen und stringent umgesetzten Plot zu unterhalten weiß. Natürlich war sein Stil noch nicht ausgereift – im Vergleich zu seinen weiteren Erzählungen mutet sie beinahe noch roh an – und keinesfalls handelt es sich um die innovativste Geschichte, die auf Papier gedruckt wurde.

Allerdings finden wir hier schon viele Motive, die ihn später auszeichnen sollten und sein frühes Talent bereits andeuten, etwa den angerissenen internationalen Bezug, die weibliche Hauptfigur oder auch der immer wieder anklingende feinsinnige Humor – man denke etwa an die Unterhaltung zwischen Hortense und dem zwielichtigen Fischer. All diese Elemente setzt er so gelungen zusammen, dass man als Leser zwangsläufig unterhalten wird – es muss sich halt nicht immer um eine feinsinnige Charakterstudie handeln, manchmal reichen auch solche Geschichten.

Literarischer Fortschritt

Vier Begegnungen erschien elf Jahre später und verdeutlicht eindrucksvoll Henry James schriftstellerische Entwicklung. Zunehmend gewinnt das Innenleben seiner Figuren an Bedeutung und nimmt breitere Teile seiner Erzählung ein. Noch wagt sich James aber nicht völlig aus dem altgefahrenen literarischen Korsett, es handelt es immer noch um eine im weitesten Sinne klassische Erzählung, die den Plot in den Mittelpunkt stellt.

Aber auch wenn sich James stilistisch deutlich gesteigert hat, konnte mich die Geschichte nicht so überzeugen wie zuvor Tragödie eines Irrtums. Dabei hat sich insbesondere als störend erwiesen, dass der eigentlichen Hauptfigur Caroline Spencer zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. James legt den Fokus mehr auf das Bedauern und Bemitleiden ihrer Person durch den Erzähler, doch wirkliche Einblicke in die Person Caroline Spencer erhalten wir nie. Dies verhindert, dass wir wirklich Anteil an ihrem an sich tragischen Schicksal nehmen können und ihr Schicksal am Ende mit einem Schulterzucken hinnehmen.

(K)ein (gelungener) Briefroman

Wie man es sieht stellt nicht nur aufgrund der Erzählform eine Besonderheit dar. Alleine schon wegen der Abwechslung, die solche Geschichten bieten, bin ich ein Freund des Briefromans. Leider verzettelt sich James in diesem Fall durch seine vielen Erzähler und macht es dem Leser damit unnötig schwer, der Geschichte zu folgen. Investiert man dann doch die nötige Aufmerksamkeit, dann muss man ernüchtert feststellen, dass weder die dünne Handlung noch der europäisch-amerikanische Konflikt wirklich innovativ sind – die mit Abstand schwächste Geschichte des gesamten Bandes.

Das Beste kommt zum Schluss

1884, zwanzig Jahre nachdem er das literarische Parkett betreten hatte, erschien mit Pandora das Prunkstück des hier vorliegenden Bandes. James bricht hier endgültig aus angestammten Erzählmustern aus und schafft es, neben hervorragenden Charakterzeichnungen eine unterhaltsame Geschichte und kulturelle Konflikte in einer herausragenden Geschichte zusammen zu bringen.

Mit dieser Geschichte wurde mir auch erst klar, wie die Auswahl der Geschichten zustande kam. Schritt für Schritt begleiten wir James in seiner Entwicklung, die in Pandora ihren (vorläufigen) Höhepunkt erreicht und die besten Aspekte der vorherigen Geschichten in sich vereinigt. Alleine schon für dieses Erlebnis hat sich die Lektüre der schwächeren Geschichten gelohnt.

Wenig aktuelle Bezüge

Auch wenn Henry James zweifellos ein guter Schriftsteller ist, stellt sich doch die Frage, ob die Darstellungen der kulturellen Konflikte zwischen Amerika und Europa immer noch „relevant“ sind, ob sie auch diesbezüglich immer noch lesenswert sind. Ein Blick auf das Erscheinungsdatum der Geschichten sollte genügen, um dies weitestgehend zu verneinen. Natürlich, jeder, der einmal den anderen Kontinent besucht hat, kann die auch heute noch bestehende Unterschiede nicht abstreiten.

Allerdings scheint mir seine Darstellung ein wenig zu kurz gegriffen. Das ist nichts, was man James persönlich vorwerfen kann. Ihm ging es schließlich um die damalige Zeit und nicht um zeitlose Konflikte. Er konnte die Globalisierung und die damit einhergehende Differenzierung auf viel feineren Ebenen nicht voraussehen und blieb in allen Geschichten bei seinen groben Amerika/Europa Raster. Dies ändert aber nichts daran, dass die von ihm vorgetragenen Konflikte in unserer Zeit viel weniger bedeutend sind, als es damals der Fall war. Das macht seine Geschichten auf keinen Fall schlechter, man sollte sich dessen nur vor der Lektüre bewusst sein.

Was bleibt?

Die Vier Begegnungen stellen eine Sammlung von stellenweise durchaus anspruchsvollen Kurzgeschichten eines stilistisch begnadeten Schriftstellers dar. Henry James Geschichten begeistern durch einen feinsinnigen Humor, pointierte Dialoge und der hervorragenden Darstellung von Gedankenwelten. Inhaltlich kreisen seine Geschichten um das Verhältnis von Europäern und Amerikanern. Auch wenn sie sicherlich nicht die heutigen Verhältnisse widerspiegeln, so mindert dies nichts an der Qualität dieser Geschichten und macht sie nicht weniger lesenswert.

Prachtvoller Klassiker

Wieder einmal kann eine Ausgabe des Mare-Verlages durch hochwertige Materialien und eine makellose Verarbeitung begeistern. Neben dem stabilen und minimalistisch-edlen Schuber kann dabei vor allem der Einband an sich überzeugen. Dieser ist in hellbraunen Leinen gebunden und wird durch verschiedenfarbige Prägungen aufgewertet. Auch das auf den Leinen gedruckte Dampfschiff passt nicht nur optisch, sondern weist auch inhaltlichen Bezüge auf.

Im Inneren erwartet uns eine hochwertige Papierqualität, ein Leseband und natürlich auch die obligatorische Fadenheftung. Insgesamt hält man also ein hochwertiges Stück Buchkunst in den Händen. Einzig das einfarbige Vorsatz- bzw. Nachsatzpapier hätte eine Aufwertung in Form einer Illustration vertragen können – aber das ist Meckern auf ganz hohem Niveau. Daneben erwartet uns ein Anhang im angemessenen Umfang, der neben einer überschaubaren Anzahl von Anmerkungen einige bibliographische Anmerkungen und ein kurzes, aber unterhaltsames Nachwort des Übersetzers Mirko Bonné enthält.

Bibliographie

Mehr Weniger

Pro/Contra

Pro
  • pointierte Dialoge
  • detailliert herausgearbeitete Gedankenwelten
  • hochwertige Klassikerausgabe
Contra
  • nur noch begrenzt inhaltlich relevant

Fazit


Die Vier Begegnungen enthalten stilistisch herausragende Kurzgeschichten, die – trotz überschaubarer aktueller Relevanz – auch heute noch begeistern können. Wer dem Thema zumindest nicht abgeneigt ist, wird mit diesem Band hervorragend unterhalten.

autor: Henry James

Titel: Vier Begegnungen

Seiten: 271

Erscheinungsdatum: 1864-1884

Verlag: Mare Verlag

ISBN: 9783866482715

übersetzer: Mirko Bonné

illustrator: –

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