Ein Exemplar des Buches „Lord Jim“ von Joseph Conrad liegt auf einer Holzfläche.

Lord Jim

von Joseph Conrad


20.10.2023

  • Klassiker

Mit Lord Jim wagte Joseph Conrad im Jahre 1900, ein scheinbar abgehangenes Thema in ein handwerklich experimentelles Gewand zu kleiden. Doch bleibt am Ende genug Roman übrig oder haben wir es nur mit dem Experiment eines Autors zu tun?

Schuld und Sühne

Den Einstiegspunkt unserer Erzählung bildet das Leben des aufstrebenden Pfarrerssohns Jim. Jung, talentiert und mit allerlei sonstigen Vorzügen ausgestattet steht er vor einer hoffnungsvollen Karriere in der britischen Marine. Der Wendepunkt kommt, als er nach einer krankheitsbedingten Pause im Indischen Ozean als erster Offizier auf der Patna anheuert – einem Schiff in einem zweifelhaften Zustand mit einer noch zweifelhafteren Führung. Der Auftrag? Hunderte Pilger nach Mekka zu transportieren.

Doch eines Nachts scheint es so, als ob das Schiff kurz vor dem Untergang steht. Ohne die Pilger zu informieren, setzt sich die Führung des Schiffes heimlich ab. Auch und ausgerechnet der idealistische Jim springt in einem Moment der Schwäche nach. Es kommt wie es kommen muss – die Patna wird gerettet und der abtrünnigen Crew im nächsten Hafen der Prozess gemacht.

Jim verliert sein Patent – auf Lebzeit – und schlägt sich fortan mit Gelegenheitsjobs durch, immer auf der Flucht vor seiner Vergangenheit. Gelingt es ihm, Vergebung zu finden, oder muss er sein Leben lang mit seiner Schuld ringen?

Seefahrer und Schriftsteller

Joseph Conrad, 1857 als Józef Konrad Korzeniowski im damaligen Polen und der heutigen Ukraine geboren, lernte von seinem Vater schon früh die Liebe zur Literatur. Zunächst folgte er aber den Ruf des Meeres. Im Laufe seiner rund zwanzigjährigen Laufbahn stieg er vom Schiffsjungen zum Kapitän auf, erlangte quasi nebenbei die britische Staatsbürgerschaft und veröffentlichte nach dem krankheitsbedingten Ende seiner Seefahrerkarriere zahlreiche Romane in englischer Sprache.

Lord Jim erschien zwischen 1899 und 1900 im Blackwood´s Edinburgh Magazine – einer Zeitschrift, die sich vornehmlich an überzeugte Unterstützer des britischen Kolonialismus richtete. Ein Jahr zuvor erschien bereits mit Herz der Finsternis eines seiner bekanntesten Werke.

Obwohl der große finanzielle Erfolg auch diesem Werk verwehrt blieb, konnte Conrad sich immerhin auf die Unterstützung von Kritikern und Kollegen verlassen. Erstere sahen in ihn nach seinem überzeugenden Der Niemand von der Narcissus sowieso als einen Liebling ihrer Zunft an. Und letztere äußerten über Generationen hinweg ihre Bewunderung für sein Werk. Conrad war schon immer der Lieblingsschriftsteller vieler großer Schriftsteller – so erhielt er unter anderem von Woolf über Hemingway bis hin zu Thomas Mann und vielen mehr allseits Zuspruch und Bewunderung.

Die Geschichte der „Jeddah“

Lord Jim ist dabei gespickt mit zahlreichen kleineren und größeren Geschichten aus den ostasiatischen britischen Kolonien. Dabei durfte Conrad sicherlich auf einiges Seemannsgarn zurückgreifen, welches ihm auf seinen eigenen Reisen gesponnen wurde. So basiert beispielsweise die Geschichte der Patna auf dem Schicksal der „Jeddah“, einem hochmodernen Schiff, dass im August 1880 ebenfalls Pilger transportierte.

Als es leck schlug und offensichtlich wurde, dass die Rettungsboote nicht für alle reichen würden, setzten sich der Kapitän und seine Offiziere ab und ließen das – vermeintlich – sinkende Schiff zurück. Die Jeddah wurde später jedoch gerettet und auch hier wurde dem Kapitän der Prozess gemacht – er verlor sein Patent jedoch nur für drei Jahre. Vermutlich auch, weil sich das Schiff in einer tatsächlichen Notlage befand und die Führung immerhin einige Tage kämpfte.

Aber auch bei der Ausgestaltung seines – für diese Zeit – äußerst diversen und vielfältigen Figurenensembles konnte er sich auf seine Seefahrervergangenheit verlassen – spielerisch gelingt es ihm, über fünfzig Figuren einzuführen, die der Leser nicht nur anhand des Namens unterscheiden kann.

Unkonventionelle Erzählstrukturen

Handwerklich haben wir keinen klassisch strukturierten und stringenten Abenteuerroman vor uns. Im Gegenteil, Conrad setzt uns einigen Experimenten aus, die jedenfalls ungewöhnlich und wahrscheinlich auch sehr riskant sind. Dabei deutet zu Beginn noch nichts darauf hin: Wir starten unsere Erzählung recht klassisch mit einem auktorialen Erzähler, der Jims Lebensweg bis hin zum entscheidenden Moment auf der Patna nacherzählt.

Doch nach dem Sprung auf das Rettungsboot erfolgt der Wechsel: Kapitän Marlow – Conrad Lesern bereits bestens bekannt aus Werken wie Herz der Finsternis oder Spiel des Zufalls – übernimmt fortan das Ruder und erzählt einer Abendgesellschaft von Jims weiteren Werdegang. Wir erleben Jims Leben also nicht mehr aus Jims Perspektive, sondern nur noch aus Nacherzählungen anderer Charaktere.

Und schnell wird klar: Marlow ist als Erzähler genauso gewissenhaft wie geschwätzig. In Zeiten von Fake News mutet seine Quellenarbeit wie eine wahre Wonne an. Ausführlich erklärt er uns, woher seine Informationen stammen, wie ungenau sie sind und auch warum sie so ungenau sind. Dabei geht es ihm genauso wie uns – es existieren einfach zu viele verstreute und lückenhafte Informationsschnipsel über unseren Lord Jim. Letztlich bleibt er damit bis zum Schluss unergründlich und für den Leser sehr unnahbar.

Der dritte und letzte Abschnitt endet hingegen mit einem längeren Brief, der mehr an einen Tatsachenbericht als an einen Roman erinnert. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Romans ist das sogenannte „delayed decoding“. Damit wird eine Erzähltechnik bezeichnet, die entscheidenden Ereignisse nicht erst in dem Moment auflöst, in dem sie geschehen, sondern erst zu einem viel späteren Zeitpunkt – bis dahin wird also um das Problem herumgeschwafelt.

Für den einfachen Leser (oder zumindest für mich) stellt die Lektüre daher gerade zu Beginn eine recht anstrengende Erfahrung dar. Als Leser werden wir von Anfang an über viele Aspekte im Unklaren gelassen. Einiges lässt sich durch beständige Lektüre erarbeiten, vieles bleibt jedoch bis zum Ende hin offen. Gerade bezüglich der Hauptfigur Jim verbleibt es dem Leser, aus den unterschiedlichen Perspektiven und Erzählscherben ein Gesamtbild zusammenzusetzen – wohlwissend, das es am Ende nur eine Annäherung darstellen wird.

Was bleibt?

Man wird es meiner Rezension sicherlich anmerken: Lord Jim ist zumindest für mich ein sehr fordernder Roman und die Lektüre stellt alles andere als einen Spaziergang dar. Letztlich bin ich in hin und hergerissen. Würde ich Sterne vergeben, dann wäre dies wohl das Buch, das gleichzeitig die höchste und niedrigste Bewertung erhalten könnte.

Anstatt den Leser mit Abenteuerromantik zu umgarnen (der Nährboden für einen solchen Stoff wäre auf jeden Fall da) muss der Leser selbst bei Sturm an Oberdeck stehen und das Schiff durch die unberechenbaren Weiten des Meeres navigieren. Dabei bleibt bis zum Schluss unklar, wohin Conrad mit diesem Roman hinsteuern möchte: Für einen Abenteuerroman zu experimentell, für eine Charakterstudie zu weit weg und in vielen Aspekten zu unklar. Bezüglich eines klassischen Bildungsromans lässt sich im Grunde das Gleiche sagen.

Bleibt also das handwerkliche Experiment und genau das sollte der geneigte Leser auch erwarten: Unkonventionelle Erzählstrukturen, nebulöse Figuren, Motivationen und Ereignisse stehen nur selten einer klaren Aussage gegenüber. Letztlich bleibt die Geschichte eines hoffnungslosen jungen Mannes, der in der Stunde der höchsten Not einen schweren Fehler begeht, unter Druck seine Ideale verrät und sein Leben lang unter diesem Fehler leiden muss.

Eine gleichermaßen fordernde und berührende Lektüre, die allerdings nicht jedem und nicht in jeder Stimmung angeraten sei.

Hochwertiger Klassiker im Hanser-Gewand

Wie schon etliche Neuübersetzungen zuvor überzeugt auch dieser Hanser-Klassiker mit der Erfüllung höchster Qualität-Standards. Neben einer Fadenheftung erwartet uns ein tropen-beige (Farben sind nicht meine Stärke!) Leineneinband mitsamt Titelschild und Silberprägung. Natürlich dürfen wir uns auch über zwei farblich perfekt abgestimmte Lesebänder freuen. Im Inneren kann der Band zudem durch Dünndruckpapier überzeugen, dass ein Stück weit stärker ist als herkömmliches Bibelpapier. Das Titelbild hingegen kann trotz seiner inhaltlichen Bezüge optisch nur bedingt überzeugen und gehört zu den wenigen Fehlgriffen, die sich der Hanser Verlag bei seinen Klassikern bislang erlaubt hat.

Im Inneren erwartet uns wie gewohnt ein umfangreicher Anhang. Dieser erstreckt sich zum einen auf einen beeindruckenden Anmerkungsapparat, einem kleinen Glossar mit den wichtigsten nautischen Fachbegriffen, einem umfangreichen und aufschlussreichen Nachwort von Daniel Göske, nachvollziehbaren Anmerkungen des Übersetzers und einer beinahe fünfzig-seiten (!) langen und eng bedruckten Zeittafel zu Joseph Conrads Leben.

Die Übersetzung stammt von Michael Walter und sorgte nicht zuletzt deshalb für Aufsehen, weil Manfred Allie keine sechs Jahre zuvor erst eine gut besprochene Neuübersetzung vorgelegt hat. Da ich Manfred Alliés Übersetzung nicht kenne blieb mir nur der gelegentliche Blick ins Original. Und zumindest aus Laienperspektive scheint Walter gute Arbeit abgeliefert zuhaben, insbesondere verwendet er die richtigen nautischen Fachtermini und gibt sich Mühe, Conrads Sprachvielfalt auch in der deutschen Ausgabe darzustellen.

Pro/Contra

Pro
  • Der Leser muss mitdenken
  • Fordernde Literatur
  • Umfangreicher Anhang
Contra
  • Der Leser muss mitdenken
  • Fordernde Literatur
  • Experimentelle Erzählweise könnte abschreckend wirken

Fazit


Lord Jim von Joseph Conrad ist ein in jeglichen Aspekten ungewöhnlicher Roman, der permanent mit der Erwartungshaltung seiner Leser spielt. Für Leser, die sich fordern möchten die ideale Lektüre.

autor: Joseph Conrad

Titel: Lord Jim

Seiten: 640

Erscheinungsdatum: 2022 (1899)

Verlag: Hanser Verlag

ISBN: 9783446272651

übersetzer: Michael Walter

illustratorIn: –

Reihe: Hanser Klassiker

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