
Der Tod in Venedig
von Thomas Mann
22.04.2025
- Klassiker
Die 1912 von Thomas Mann veröffentlichte Novelle Der Tod in Venedig zählt zu dessen bekanntesten Werken. Was die Lektüre heute so problematisch macht, soll Gegenstand der folgenden Besprechung sein.
Schriftsteller auf Abwegen
Gustav von Aschenbach – erfolgreicher und landesweit bekannter Schriftsteller – befindet sich in einer kreativen Schaffenskrise. Abhilfe soll eine Reise nach Venedig schaffen. Dort verliebt er sich zunächst in die Stadt, dann in einen Jungen. Doch während er mit seinen Gefühlen ringt, sucht eine Cholera-Epidemie die Stadt heim …
Die Kehrseite des Erfolgs
Thomas Mann gelang 1901 mit den Buddenbrooks in jungen Jahren der große literarische Durchbruch – schon 1929 sollte dafür der Nobelpreis für Literatur folgen. Die Kehrseite des Erfolgs: Alle nachfolgenden Veröffentlichungen konnten den Erwartungen nicht mehr gerecht werden. Also versuchte er es mit immer anspruchsvolleren Stoffen. 1912 folgte als Ableger dieser literarischen Sinnsuche Der Tod in Venedig in der Literaturzeitschrift Die neue Rundschau.
Nach mehreren Anläufen …
Bevor es um das Werk geht: Ich habe wirklich versucht, positive Aspekte in dieser Novelle zu finden. Schon vor Monaten habe ich das Buch gelesen und einen empörten Verriss geschrieben. Verrisse veröffentliche ich aber nur selten – irgendeinen Mehrwert sollte die Lektüre einer Rezension schon bieten. Einige Zeit später habe ich mir die Geschichte dann noch einmal vorgenommen und daraufhin diese weniger scharfe, aber auch etwas hölzerne Version verfasst.
Endlose Satzkonstruktionen
Kommen wir zunächst zu den einfachen Dingen: Stil ist natürlich Geschmackssache. Ich halte es ja eher mit Hemingway und bin der festen Überzeugung, dass eine Textseite auch mal mehr als zwei Punkte vertragen kann.
Dementsprechend fällt es mir schwer, den endlosen Satzkonstruktionen von Thomas Mann etwas abzugewinnen. Wer jedoch bildhafte und kunstvoll miteinander verwobene Nebensätze mag, der wird hier zweifellos fündig – unser Autor beherrscht sein Handwerk.
Inhaltlich fragwürdig
Was die inhaltlichen Aspekte angeht, fällt es mir schwer, ruhig zu bleiben. Man kann sich die ganze Novelle natürlich schönreden und etwas von Schönheitsidealen, Jugendlichkeit und so weiter schwafeln – dann ist man aber nur ein Opfer der geistigen Blendgranaten des Autors geworden. Was Thomas Mann in dieser Geschichte beschreibt, ist lupenreine Pädophilie. Und das war schon 1912 ein Problem.
Aschenbach begehrt den Jungen nicht nur geistig, sondern auch körperlich. Dass es dazu nicht kommt, liegt einzig und allein daran, dass sie sich im öffentlichen Raum bewegen. Problematisch findet unsere Figur nicht die Liebe zu einem kleinen Jungen, sondern die Gefahr, entdeckt zu werden.
Dazwischen finden sich noch viele äußerst problematische Formulierungen nach dem Motto „Er will es doch auch“, „Er kleidet sich so freizügig“, „Er wirft mir anzügliche Blicke zu“ (Anm. des Rezensenten: Die Formulierungen stammen natürlich nicht von Thomas Mann). Das ganze schwierig zu nennen stellt wohl eine Untertreibung dar.
Geistige Blendgranaten
Doch warum erfreut sich die Geschichte auch heute noch einer breiten Leserschaft? Zwei Erklärungsansätze: Sie ist zum einen kurz genug, um sogar von Lesemuffeln bewältigt werden zu können. Zum anderen lassen sich zahlreiche Symbole und Motive finden, die sich beliebig interpretieren lassen.
Grundsätzlich bin ich kein Gegner davon. Im Gegenteil. Richtig dosiert können Symbole und Motive eine Geschichte aufwerten. Bei Thomas Mann schreit aber jede Zeile: Ich bin ein Symbol, entdecke meine wirklich gut verborgene Botschaft, schau wie kulturell bedeutsam ich bin, verfasse eine Seminararbeit über mich. Dabei werden allein schon die ganzen Todesmotive so plump in Szene gesetzt, dass selbst unaufmerksame Leser irgendwann nur noch mit den Augen rollen müssen.
Die übermäßige Verwendung mythologischer Motive hat mich noch nie wirklich überzeugen können. Im Grunde genommen bewegen wir uns dabei geistig auf der Ebene des Auswendiglernens – dahinter steckt oft nur der Versuch der Abgrenzung bestimmter Gruppen. Wer also Auswendiglernen für eine geistig anspruchsvolle Leistung oder gar kulturell bedeutsam hält, wird diese Novelle für sehr bedeutsam halten. Für mich handelt es sich nur um den verzweifelten Versuch, Bedeutung durch Form zu erlangen.
Was bleibt?
Leider kann ich nur wenig Gutes über Der Tod in Venedig von Thomas Mann berichten. Handwerklich kann ich die Faszination zumindest nachvollziehen, halte aber viele seiner stilistischen Elemente für geistige Blendgranaten. Inhaltlich ist der Roman mindestens fragwürdig.
Schöner Leineneinband
Rein äußerlich handelt es sich um ein wirklich nett ausgestattetes Büchlein aus dem Fischer Verlag. So dürfen wir uns über einen bedruckten Leineneinband, ein stimmiges Farbkonzept und nettes Vorsatz- bzw. Nachsatzpapier freuen.
Dabei müssen wir mit einer Klebebindung vorliebnehmen und auch ein Leseband fehlt. Das ist allerdings angesichts des angemessenen Preises und der Kürze der Erzählung noch verkraftbar. Im Anhang finden wir noch ein umfassendes Nachwort von Terence James Reed und einige bibliographische Angaben.
Pro/Contra
Pro
- Handwerklich anspruchsvoller Aufbau
Contra
- Motive und Symbole oft plump integriert
- Inhaltlich schwierig
Fazit
Der Tod in Venedig von Thomas Mann kann weder inhaltlich noch handwerklich überzeugen. Ein Werk voller geistiger Blendgranaten. Nur für wirkliche Fans!
autor: Thomas Mann
Titel: Der Tod in Venedig
Seiten: 128
Erscheinungsdatum: 2022 (1912)
Verlag: S. Fischer Verlag
ISBN: 9783596112661
übersetzerIn: –
illustratorIn: –
Oh je, dann wird das vielleicht auch nicht mein Thomas-Mann-Erweckungserlebnis. Ich habe vor Jahren den Zauberberg gelesen und daran irgendwie gescheitert. Zwar habe ich das Buch beendet, aber war irgendwo zwischen gelangweilt und verstört. Es war einfach nicht meins. Eine liebe Bloggerin, die ich sehr schätze, bespricht gerade viele Thomas Mann Romane und weckt in mir die Hoffnung, dass ich einfach nur den falschen Einstieg gewählt habe. In einem Kommentar unter meiner Rezension wurde ich auch gescholten wie ich denn ausgerechnet mit dem Zauberberg anfangen könne, das wäre ja ganz falsch. Nun ja. Der Tod in Venedig ist gerade in der ARD Audiothek, da dachte ich … ach. Ich schlafe nochmal drüber.