Die Straße der Ölsardinen
von John Steinbeck
19.07.2024
- Klassiker
Mit seinem 1945 erschienenen Roman Die Straße der Ölsardinen schuf John Steinbeck eine liebevolle Hommage an die einfachen Menschen und Außenseiter der Cannery Row.
Cannery Row
Dazu versetzt uns Steinbeck in das Küstenstädtchen Monterey in Kalifornien, irgendwann während der großen Depression. Den heimlichen Mittelpunkt dieses Örtchens bildet die Cannery Row, Standort unzähliger Ölsardinenfabriken und gleichzeitig Wohn- und Lebensmittelpunkt einer Vielzahl von Außenseitern.
Wir begegnen Laboranten, Streunern, Prostituierten, Taugenichtsen, Glücksritter oder besser noch als Zitat: „Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen“. Wir erleben die Bewohner der Cannery Row und mit ihnen große und kleine Abenteuer, die alltäglichen und nicht so alltäglichen Probleme und wie sie allen Widrigkeiten zum Trotz zusammenhalten.
Schriftsteller der Außenseiter
John Steinbeck wurde 1902 in Salinas, Kalifornien geboren und wuchs damit nur unweit von Monterey entfernt auf. Sein Literaturstudium in Stanford brach er desillusioniert ab, doch die harten Nebenjobs, mit denen er sein Studium finanzierte, sollten sein Schaffen nachhaltig prägen. Er nutzte seine Erfahrungen auf den Fabriken, Farmen und Baustellen des Landes und machte die amerikanische Unterschicht zu den Protagonisten seiner Erzählungen. Der Erfolg sollte ihm Recht geben: 1940 erhielt er für Früchte des Zorns des Pulitzer Preis, 1962 den Nobelpreis für Literatur.
Die Straße der Ölsardinen schrieb er 1944 nach seiner Rückkehr als Kriegsberichterstatter. Inspiriert wurde er (und insbesondere die Figur des Doc) durch die Lebensphilosophie des Meeresbiologen Ed Rickett. Ihm hat Steinbeck in seinem Reisebericht Logbuch des Lebens ein weiteres literarisches Denkmal gesetzt.
Die Cannery Row stellt dabei keineswegs eine Erfindung des Autors dar. Unter dem Namen Ocean View Avenue bildete sie in den 1930ern und 1940ern einen Mittelpunkt der amerikanischen Ölsardinenproduktion. Wenige Jahre nach dem Erscheinen des Romans verschwanden die Fabriken allerdings bereits wieder – Grund war die Überfischung der Meere. Heutzutage ist die Cannery Row vor allem als Touristenattraktion bekannt. Doch taugt sie heute noch als Handlungsort eines Romans?
Episodenhafte Erzählung
Schon von Anfang an wird deutlich, dass wir es mit keinem gewöhnlichen Plot zu tun haben. Es handelt sich vielmehr um einen Episodenroman im weitesten Sinne, der von einer ziemlich grobmaschigen Haupthandlung zusammengehalten wird, in der eine Streunerbande verzweifelt versucht, eine Party zu organisieren.
In den restlichen Kapiteln begegnen wir zahllosen Figuren mit oftmals kurzen Auftritten und erhalten Einblicke in die positiven und negativen Seiten ihres Lebens. Die Spannbreite ist dabei recht groß, wirklich heftige Szenen können ohne bestimmten Rhythmus auf zuckersüße Abschnitte folgen und umgekehrt.
Erleichtert wird uns die Orientierung durch einen allwissenden Erzähler, der zudem die Übergänge zwischen den Figuren elegant vonstattengehen lässt und dabei stets den einen oder anderen humorvollen und/oder ironischen Kommentar parat hat.
Rohe und lebendige Sprache
Steinbeck bedient sich dabei sowohl hinsichtlich Wortwahl als auch Satzbau einer rohen Sprache, die – angereichert mit vielen Aufzählungen und Dialogen – sehr lebendig wirkt. Überhaupt gelingt ihm der schwierige Balanceakt zwischen Beschreibungen, Dialogen und Handlung erstaunlich gut.
So berücksichtigt er etwa im Rahmen der Dialoge die einzelnen Charaktere und ihre Eigenarten – ohne dass dies auf Kosten der Lesbarkeit geht. Es macht nun mal einen Unterschied, ob ein Bettler oder ein studierter Biologe spricht – aber so künstlich aufgebläht, wie man es an anderen Stellen liest oder hört, ist dieser Unterschied nun mal auch nicht.
An der Grenze zwischen Realismus und Kitsch
Thematisch stellt Steinbeck das Leben der einfachen und hart arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt. Oft handelt es sich bei seinen Figuren um den „Bodensatz“ der Gesellschaft. Nicht die Arbeiter der Fabrik sind seine Helden, sondern die Menschen, die von ihnen schief angesehen werden. Dabei gelingt es ihm quasi nebenbei, alleine durch die Beschreibung ihres Alltags eklatante Missstände aufzuzeigen.
Im Mittelpunkt dieses Werks steht aber keineswegs eine Anklage. Vielmehr war es ihm wichtig zu zeigen, dass es auch unter den widrigsten Umständen so etwas wie Hoffnung, Freundschaft und gegenseitigen Respekt geben kann. Der Autor geht dabei stets respektvoll mit seinen Figuren um – springt bisweilen aber auch arg stark zwischen Realismus und Kitsch hin und her. So manche Handlung oder Reaktion wirkt überzogen optimistisch und darf nur von wahren Samaritern glaubhaft erwartet werden.
Auch kann man dem Roman nicht vorwerfen, im Trübsal zu versinken. Im Gegenteil, Witz und Humor sind trotz der schlechten Lebensbedingungen allgegenwärtig. Dass Humor und Tragik oft Hand in Hand gehen, ist ja oftmals das Fantasieprodukt verwöhnter Seelen, aber ganz von der Hand zu weisen ist eine solche Aussage auch nicht – jedenfalls wenn man den Alkohol als Alternative ausschließt.
Lebendiges und gewaltiges Figurenensemble
Unterstützt wird die lebensbejahende Botschaft durch ein lebendiges und vielfältiges Figurenensemble. Dem Autor gelingt es, seine Protagonisten mit glaubwürdigen und interessanten – manchmal auch sehr tragischen – Hintergrundgeschichten auszustatten – wofür er oftmals nicht mehr als eine halbe Seite benötigt.
Die alle aufzuzählen würde wahrlich den Rahmen dieser Rezension sprengen. Unbedingt erwähnt werden muss allerdings der Meeresbiologe Doc, der nachhaltig von Ed Rickett inspiriert wurde und der als Intellektueller und Teilzeit-Stoiker deutlich hervorsticht.
Die anderen Figuren müssen sich hinter ihm allerdings nicht verstecken und gerade Figuren wie der Ladenbetreiber Lee Chong, die Clique vom Palace Hotel, Dora Flood von der „Flotten Flagge“ oder auch der unglückliche Maler und Bootsbauer Henris verleihen der Geschichte eine ungeahnte Tiefe.
Was bleibt?
Die Straße der Ölsardinen von John Steinbeck lässt mich als Leser zwiegespalten zurück. Einerseits bewegt sich der Roman munter an der Grenze zwischen Realismus und Kitsch – und gerade mit letzterem geht er sehr großzügig um. Andererseits stellt es ab und an auch eine Wohltat dar, einen lebensbejahenden Roman zu lesen, der Herzlichkeit und Optimismus in den Mittelpunkt stellt (vgl. Becky Chambers grandiosen Kurzroman Ein Psalm für die wild Schweifenden).
Trotz des episodenhaften Aufbaus verliert man dank eines (sehr unterhaltsamen) Hauptstrangs niemals den Faden und auch handwerklich passt die bisweilen rohe Sprache zum Geschehen und den äußerst lebendigen und gelungenen Figuren. Alles in allem handelt es sich um einen kurzweiligen, optimistischen und verdammt unterhaltsamen Sommerroman, der uns Leser für einige Stunden in eine längst vergangene Zeit versetzt.
Solide Buchclub-Ausgabe
Meine Ausgabe entstammt dem Bertelsmann Lesering und ist im Jahre 1965 erschienen. Und wirklich viel gibt es zu dieser Ausgabe auch nicht zu sagen.
Äußerlich dürfen wir uns über einen Halb-Leder-Imitat-Bucheinband und einen marmorierten restlichen Einband freuen. Im Inneren erwartet uns tatsächlich eine Fadenheftung, auf ein Leseband oder gar eine editorische Begleitung müssen wir hingegen verzichten.
Die Übersetzung durch Rudolf Frank scheint gelungen zu sein, jedenfalls wenn man dieser Rezension glauben mag.
Pro/Contra
Pro
- Lebedinge und vielschichtige Protagonisten
- Humor
- Gesellschaftskritik
Contra
- Keine wirkliche Handlung
- Stellenweise zu pathetische Sicht auf Armut
Fazit
Die Straße der Ölsardinen von John Steinbeck begeistert trotz eines recht hohen Kitsch-Anteils mit einer hoffnungsvollen Grundstimmung, einer lebendigen Sprache und einem interessanten und hervorragenden Figurenensemble.
autor: John Steinbeck
Titel: Die Straße der Ölsardinen
Seiten: 236
Erscheinungsdatum: 1965 (1945)
Verlag: Bertelsmann Lesering
ISBN: 9783423106252 (aA!)
übersetzer: Rudolf Frank
illustratorIn: /
Hallo Eugen,
es ist zwar schon gut 50 Jahre her, dass ich John Steinbeck gelesen habe, aber ich erinnere mich, vor allem seine drei schelmenhaften Romane mit großem Vergnügen damals direkt hintereinander genossen zu haben. Angefangen hat es mit „Tortilla Flat“, sein erster großer Erfolg Mitte der 30er Jahre. Zehn Jahre später erschien dann „Die Straße der Ölsardinen“ und noch mal ein Jahrzehnt später der Folgeband „Wonniger Donnerstag“. Allesamt episodische Geschichten – so humorvoll, leicht und nostalgisch geschrieben, dass man fast dabei vergessen könnte, dass es sich um Weltliteratur handelt.
Hintergrund vieler Werke Steinbecks war ja die Gegend um Salinas und Monterey in Kalifornien. Wer mehr von ihm lesen will, dem kann ich noch „Von Mäusen und Menschen“ und „Die Perle“, (kürzere Werke) oder„Früchte des Zorns“ und „Jenseits von Eden“ (längere) empfehlen. Viele seiner Werke sind ja auch mit großem Erfolg verfilmt worden.
Bin direkt am Überlegen, ob ich in „Tortilla Flat“ und/oder „Die Straße der Ölsardinen“ jetzt im Alter noch einmal rein lesen sollte…und wie sie wohl mit reiferem Blick nun wirken.
Hallo Jean Fritz,
Es ist schon erstaunlich, wie viele bekannte Romane Steinbeck verfasst hat. In der Regel verbindet man mit einem Autor ja hauptsächlich nur ausgewählte Titel, hier spricht ja schon deine Aufzählung für sich. „Leider“ gibt es so viele spannende Autoren, die ich noch lesen möchte – ich fürchte selbst, wenn ich alle Zeit der Welt zum Lesen zur Verfügung hätte, dann würde das nicht reichen, um meine Leseliste abzuarbeiten.
Wenn du noch mal reinlesen solltest, würde ich mich freuen, wenn du hier deine Eindrücke teilen würdest – ich tippe ja darauf, dass Steinbecks Romane zu jenen Büchern zählen, die den Lauf der Zeit zumindest gut überstehen!
Hallo Eugen, wieder eine schöne Rezension zu einem tollen Buch! Ich mag Steinbeck einfach. Die Art, wie er seinen Figuren Leben einhaucht, wie er Menschlichkeit und Brüderlichkeit zu seinem Thema macht, ist einzigartig. „Die Strasse der Ölsardinen“ fehlt noch in meiner Sammlung, das wird sich aber ändern. Ich habe von Steinbeck in derselben Aufmachung des Bertelsmann Leserings „Die Schelme von Tortilla Flat“ in meinem Regal stehen. Passend dazu wäre natürlich die Buchclub-Ausgabe, die du hier vorstellst.
Hallo Michael,
Das stimmt, die Stimmung, die er erzeugt, ist einfach großes Kino – „Tortilla Flat“ und der von Jean Fritz empfohlene „Wonniger Donnerstag“ werden bei mir nicht allzu lange (also nicht mehr als ein bis zwei Jahre, fürchte ich) auf sich warten lassen!