
Die Schwere Not
von Iwan Gontscharow
27.03.2025
- Klassiker
Mit der Kurzgeschichte Die Schwere Not begann 1838 die literarische Laufbahn des Iwan Gontscharow. Doch konnte er bereits zu diesem frühen Zeitpunkt als Schriftsteller überzeugen?
Turnvater Jahn wäre stolz
Schon viele Winter verbrachte unser junger Erzähler in Sankt Petersburg bei der Familie Zurov und erlebte dort besinnliche und kulturell anregende Abende. Dies ändert sich, als er eines Tages auch den Sommer in der Stadt verbringt.
Eine tückische Krankheit – die sogenannte schwere Not – hat die Familie befallen: Statt anregender Gespräche über Musik und Literatur stehen Spaziergänge und Ausflüge in die unberührte Natur auf dem Programm, die oftmals den ganzen Tag oder gar noch länger andauern können. Kein Regenschauer, kein streunender Hund und nicht einmal der Ausfall des Mittagessens können die Familie von ihrem schändlichen Tun abhalten.
Besteht noch Hoffnung für die Familie oder ist sie der Krankheit für immer ausgeliefert?
Die erste Erzählung
Gut zehn Jahre vor seinem ersten Roman Eine gewöhnliche Geschichte und zwanzig Jahre vor dem berühmten Oblomow betrat der 26-jährigen Iwan Gontscharow mit dieser kleinen Erzählung im Jahre 1838 die literarische Bühne. Ein kleiner Schritt – Erstauflage: 1 – aber ein Schritt nach vorn. Doch worum genau geht es in dieser Erzählung?
Zivilisation und Natur
Anders als es der Titel vermuten lässt, geht es weder um schwere Krankheiten noch um finanzielle Plagen. Mit dem Begriff umschreibt unser Autor vielmehr einen vielfältigen Themenbereich der Aspekte wie Wanderlust, Bewegungsdrang, Freiheitsdrang und allgemein all das, was mit körperlicher Aktivität in der freien Natur verbunden werden kann.
Grob zusammengefasst geht es demnach um das Verhältnis von Zivilisation zur Natur. Eine recht offene Formulierung, die unweigerlich den Raum für moderne Themen wie die Flucht aufs Land oder Entschleunigung in einer scheinbar immer schneller verlaufenden Zeit eröffnet. Den Kern der Sache treffen diese Assoziationen sicherlich nicht ganz, aber ganz falsch liegt man damit auch nicht.
Keimzelle des Oblomow
Ein weiterer Grund für die Bekanntheit dieser Geschichte ist zudem, dass wir hier bereits die Keimzelle eines Oblomow finden. Mit Nikon Tjazelenko finden wir eine Figur, die unserem berühmten Romanhelden wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Natürlich fehlen hier die feinen Nuancen der späteren Figur und natürlich spielt er hier nur eine unbedeutende Nebenrolle – Freunde des Romans werden sich aber dennoch über diesen kurzen Auftritt freuen.
Handwerklich überragend
Handwerklich betrachtet haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der das Geschehen mit viel Ironie und feingeistigem Humor kommentiert und sich dazu auch immer wieder an uns Leser wendet. Dazu bedient er sich unterschiedlicher Perspektiven – teilweise als distanzierter Beobachter, teilweise als handelnder Akteur.
Neben diesen Monologen entfacht Gontscharow durch zahlreiche – äußerst unterhaltsame – Dialoge eine lebendige Handlung und ein hohes Erzähltempo, dass uns durch die Seiten fliegen lässt. Unterstützend dazu nutzt er lange Sätze mit vielen Nebensätzen, um dynamische Abschnitte darzustellen. Oft reicht er uns sogar ein hilfreiches Semikolon, um uns eine kleine Verschnaufpause zu verschaffen.
Insgesamt ist die Lektüre ein großer Spaß. Das Konzept ist genauso einfach wie effektiv: Gontscharow bildet mit seinen Figuren zunächst harte Kontraste und lässt dann beide Lebensphilosophien aufeinanderprallen und sich aneinander abarbeiten. Dabei hat er ein Ohr für beide Seiten.
Ob nun Naturliebhaber oder Bewegungsmuffel – beide Seiten bekommen ihr Fett weg. Die kleine Erzählung ist dabei gespickt mit vielen denkwürdigen Momenten, man denke nur an die Picknick-Szene, die verzweifelte Suche nach einer respektablen Gaststätte oder die Besteck-Vorbereitungen, die beide Seiten gleichermaßen bloßstellen.
Was bleibt?
Die Schwere Not von Iwan Gontscharow ist eine überraschend unterhaltsame Geschichte, die die spätere Meisterschaft des Autors bereits erahnen lässt. Neben dem unumgänglichen Oblomow-Motiv finden wir hier feingeistigen Humor, ein Gespür für Sprache und Tempo und die rare Fähigkeit, zeitlose Themen in literarischer Form zu verarbeiten. Ganz große Klasse.
Gefällige Buchgestaltung
Die Gestaltung des in der Friedenauer Presse erschienenen Buches ist wirklich gelungen. Das Covermotiv fängt die Stimmung gut ein und die innere Gestaltung insgesamt (insbesondere die verwendete Schriftart) stellt eine Wohltat für bibliophile Leser dar. Gebunden ist die Erzählung in französischer Broschur (Fadenheftung), eine Form, die man nicht alle Tage sieht.
Übertragen wurde die Geschichte vom legendären Übersetzer Peter Urban, der zudem noch hilfreiche Anmerkungen und ein lesenswertes Nachwort beisteuerte. Das Nachwort von Kior Janev hingegen ist wieder einmal ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man mit möglichst vielen Worten möglichst wenig sagt.
Pro/Contra
Pro
- Sprachlich vielseitig
- Zeitlose Themen und Motive
- Feingeistiger Humor
- Erste Erwähnung des Oblomow-Motivs
Contra
- Viel zu schnell vorbei
Fazit
Die Schwere Not von Iwan Gontscharow überzeugt mit zeitlosen Themen, feingeistigem Humor und einem untrüglichen Gefühl für Sprache. Lesenswert.
autor: Iwan Gontscharow
Titel: Die Schwere Not
Seiten: 137
Erscheinungsdatum: 2024 (1838)
Verlag: Friedenauer Presse
ISBN: 9783751880114
übersetzer: –
illustratorIn: –