Ein Buch mit dem Bild eines Mannes mit Hut.

Eine gewöhnliche Geschichte

von Iwan Gontscharow


18.08.2023

  • Klassiker

1847 veröffentliche Iwan Gontscharow mit Eine gewöhnliche Geschichte ein aufsehenerregendes und allseits beachtetes Romandebüt. Doch haben die damaligen Lobpreisungen auch heute noch ihre Berechtigung?

Irrwege eines jungen Menschen

Ein Tuch soll er ihm des Nachts auf den Mund legen, damit die Fliegen nicht in seinen Mund fliegen, heißt es in der Nachricht von Anna Adujewa an den Bruder ihres Mannes. Der Hintergrund? Ihr über alles geliebter Sohn Alexander Adujew wagt nach dem Abschluss seines Studiums den Schritt aus der Provinz hinaus in die große Stadt.

Dort will der verwöhnte und behütet aufgewachsene Bursche es Prometheus gleichtun und den darbenden Stadtmenschen endlich das intellektuelle Feuer bringen. In Gedanken sieht er sich in den exklusivsten Salons der Stadt verweilen, wo er in einem Atemzug mit den großen Schriftstellern seiner Zeit genannt wird.

Doch schon bald werden seine Träume von der bitteren Realität eingeholt. Sein Onkel denkt gar nicht daran, es der Mutter des Jungen gleichzutun. Vielmehr erweist er sich als unerbittlicher Pragmatiker und bringt ihn direkt im starren und emotionslosen russischen Beamtenapparat unter. Persönliche Neigungen, Träume oder Ideale? Fehlanzeige – stattdessen geht es einzig und allein um den schnöden Mammon.

Und auch privat läuft es alles andere als rund für Alexander: Er verliebt sich, wird verlassen, verliebt sich erneut, verlässt selbst, wird betrogen und verraten und tut auch dies selbst. Bis er allmählich dazu gezwungen wird, sich von seinen jugendlichen Idealen zu lösen. Eine ganz gewöhnliche Geschichte eben…

Der große Bruder von „Oblomow“

Iwan Gontscharow dürfte den meisten Lesern durch seinen Roman Oblomow bekannt sein, der prägend für unser Bild des Prokrastinierens wurde. Als Leser kommt man dabei nicht umhin, gewisse Überschneidungen in den Leitmotiven beider Romane festzustellen.

Das ist auch kein Wunder, konzipierte der Autor bereits vor der Veröffentlichung seines Erstlings eine Trilogie, die er später mit Oblomow und Die Schlucht abschloss. Bei der Veröffentlichung im Jahre 1847 – zunächst in der Literaturzeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse) und ein Jahr später dann in Buchform – konnte er jedoch noch gar nicht mit dem späteren durchschlagenden Erfolg rechnen.

Gesellschaft im Wandel

Gontscharow sah die frühen Vorläufer einer drohenden Globalisierung und entschied sich dazu, diesen Epochenumbruch zum prägenden Thema seines Gesamtwerks zu machen: Die Entfernungen werden kürzer, die Menschheit rückt zusammen. Die vermeintlich weltoffenen Städte sehen sich zunehmend ausländischen Einflüssen ausgesetzt und immer mehr Provinzler erliegen den Verlockungen der Ferne.

Damit prallen aber auch zwei Lebensphilosophien aufeinander, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Um es mit den Worten von Vera Bischitzky auszudrücken: Stagnation und Aufbruch prallen aufeinander und verändern das Leben in Russland nachhaltig. Der Autor konnte dabei auch aus eigenen Erfahrungen schöpfen, schließlich befand er sich als Grenzgänger zwischen Provinz und Moloch mitten an der Front dieses Kulturkampfes.

Ein moderner Roman

Dass wir als Leser dabei kaum bemerken, dass der Roman aus dem Jahre 1847 stammt, ist dabei vor allem der Arbeit der renommierten Übersetzerin Vera Bischitzky zu verdanken. Wie im Hanser Verlag üblich, ist der Übersetzung an sich ein umfangreicher Abschnitt im Anhang vorbehalten. Diesen nutzt sie, um uns ihr Vorgehen detailliert zu schildern und erläutern – ein Gewinn für jeden interessierten Leser.

Gontscharows Beschreibungen könnten dabei einem modernen Roman entnommen sein – sie sind so prägnant und eindringlich, dass man sie beinahe schon als filmisch bezeichnen könnte. Abwechselnde Abschnitte mit Dialogen, Monologen und Ausführungen des auktorialen Erzählers lassen erzähltechnisch so schnell keine Langeweile aufkommen.

Ein einheitliches Erzähltempo lässt sich dabei nicht feststellen. Beginnt der Roman noch recht gemächlich und lässt uns Charaktere und Setting in aller Ruhe kennenlernen, so wechseln wir nach und nach in immer episodenhaftere Abschnitte – ein unumgängliches Vorgehen, will der Autor doch die immerhin fünfzehn Jahre andauernde Wandlung des Protagonisten darstellen.

Leichtfüßiger Humor

Dabei besticht der Roman vor allem und trotz des an sich dunkleren Themas durch seinen leichtfüßigen Humor. Glücklicherweise vermeidet er dabei auch den Zynismus, der seine Figuren früher oder später befällt. Dieser kommt insbesondere dann zur Geltung, wenn Gontscharow den Idealisten Alexander mit der Realität konfrontiert – also beinahe ununterbrochen.

Insbesondere bei den ellenlangen Dialogen zwischen dem naiven und gutgläubigen Alexander und seinem kalten Onkel Pjotr dürfte kein Auge trocken bleiben. Aber auch so hält er Roman zahlreiche komische Momente bereit. So sieht sich Alexander aufgrund eines Übersetzernebenjobs bereits auf einer Stufe mit Goethe, nur um dann feststellen zu dürfen, dass er Artikel über Düngemittel übersetzen muss.

Ein tragendes Dreiergespann

Eine weitere Stärke des Romans bildet ein Dreiergespann: Alexander, sein Onkel Pjotr und seine Tante Lisaweta. Zur Charakterisierung verbleibt nicht mehr viel zu sagen. Die Rollen zwischen ihnen sind klar austariert. Alexander ist das klassische naive Ei vom Lande, das nach Strich und Faden betrogen und ausgenutzt wird.

Sein Onkel stellt das absolute Gegenteil – womöglich ein zynischer Ausblick auf seine Zukunft dar – und bietet einen nüchternen und immer kalkulierenden Blick auf die Wirklichkeit. Heimliche Heldin des Romans ist jedoch seine Ehefrau Lisaweta, die so etwas wie die gute Seele des Romans darstellt und als einzige die Lücken in der ach so perfekten Welt ihres Mannes offenlegt.

Dabei ist keine dieser drei Figuren für sich genommen wirklich ausgereift – in dieser Hinsicht merkt man das Debüt durchaus noch an. Doch im beständigen Zusammenspiel ergeben sich unzählige erheiternde, nachdenkliche und belehrende Momente, die kleinere individuelle Schwächen mehr als wieder wettmachen.

Was bleibt?

Eine gewöhnliche Geschichte von Iwan Gontscharow stellt ein gelungenes Debüt dar, dass auch gut 200 Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner grundlegenden Relevanz verloren hat. Auf sehr humorvolle Weise wird der an sich gar nicht so lustige Reifeprozess eines jungen Mannes geschildert. Eine Geschichte, die sich mit den alltäglichen Problemen im Leben einfacher Menschen beschäftigt – eine gewöhnliche Geschichte eben.

Hochwertiger Klassiker

Auch in diesem Band der Hanser-Klassiker-Reihe erwartet uns eine gewohnt hochwertige Ausstattung. Der Leineneinband kann mit einem Titelschild samt Goldprägung begeistern und wird ergänzt durch eine hochwertige Fadenheftung. Das dieses Mal nicht ganz so dünne Papier und zwei passende Lesebändchen tun ihr Übriges, um den hervorragenden äußeren Eindruck abzurunden.

Herausgegeben und übersetzt wurde der Roman von der renommierten Vera Bischitzky, die wieder einmal eine rundum gelungene Arbeit vollbracht hat. Neben einem umfangreichen Anmerkungs-Apparat erwartet uns ein höchst gelungenes Nachwort und darüber hinaus ein kurzer Abschnitt, in dem sie ihr Vorgehen bei der Übersetzung erläutert.

Pro/Contra

Pro
  • humorvoll
  • moderner Schreibstil
  • zeitloses Thema
Contra
  • Hauptfiguren tragen Roman nur im Verbund

Fazit


Eine gewöhnliche Geschichte von Iwan Gontscharow hat bis heute nichts von seiner Relevanz verloren und schildert auf sehr humorvolle Art und Weise den Reifeprozess eines jungen Idealisten in einer pragmatischen Welt. Lesenswert.

autor: Iwan Gontscharow

Titel: Eine gewöhnliche Geschichte

Seiten: 511

Erscheinungsdatum: 1847 (2021)

Verlag: Hanser Verlag

ISBN: 9783446269255

übersetzerin: Vera Bischitzky

illustratorIn: –

Reihe: Hanser Klassiker

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