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Verbrechen und Strafe

von Fjodor M. Dostojewskij


07.04.2023

  • Klassiker

1866 erschien mit Verbrechen und Strafe der erste große Roman von Fjodor M. Dostojewskij und fand sowohl bei Lesern als auch bei Kritikern sofort großen Anklang. Gilt das auch heute noch?

Ein (fast) perfektes Verbrechen

Warnung: Normalerweise bemühe ich mich darum, inhaltlich möglichst nur die grobe Richtung eines Romans offen zu legen. Bei Verbrechen und Strafe ist dies leider nicht möglich, zu sehr ist der Roman um das entscheidende Ereignis nach rund hundert Seiten aufgebaut. Ich versuche zwar, einige Elemente des Romans auszulassen oder stark zu verkürzen, aber ohne die Nennung einiger Aspekte wäre eine Rezension nicht möglich. Wer also wirklich nichts von der (dramatischen) Wendung dieses Romans weiß und sich über inhaltliche Spoiler ärgern würde, dem möchte ich von der vollständigen Lektüre dieser Rezension abraten und direkt auf den Unterpunkt Was bleibt? verweisen.

Im Mittelpunkt der Handlung steht der ehemaligen Jura-Studenten Raskolnikow, der ein schäbiges kleines Zimmer in einer bescheidenen Pension bewohnt. Sein Studium hat er – angeblich aus finanziellen Gründen – abgebrochen, doch schon bald merken wir, dass die finanziellen Nöte nur vorgeschoben sind. Er ist besessen von der Idee, dass Mord unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann und schmiedet einen Plan, um die skrupellose Pfandleiherin Aljona Iwanowa auszurauben und ihr Vermögen einem besseren Zweck – seinem Vermögen – zuzuführen.

Als er den Plan schließlich umsetzt, kann er nur durch ein Wunder entkommen. Der anfänglichen Euphorie folgen Gewissensbisse, die seinen Zustand immer weiter verschlimmern und zu allem Übel beginnt auch noch die Polizei, Verdacht zu schöpfen. Raskolnikow verstrickt sich immer weiter und wagt einen Kampf, der keine Gewinner hervorbringen soll …

Der erste große Roman

Fjodor M. Dostojewski gehört heutzutage zu den bekanntesten, aber gleichzeitig auch zu den am wenigsten tatsächlich gelesenen russischen Schriftstellern überhaupt. Verbrechen und Strafe erschien erstmals zwischen Januar und Dezember 1866 in der Zeitschrift Russki Westnik und 1867 schließlich auch in Buchform. Der Roman gilt dabei als erster und bekanntester seiner großen sechs (teilweise auch fünf) Romane und durfte sich alleine im deutschsprachigen Raum bislang an über mehr als 21 Übersetzungen erfreuen.

Eine Einschränkung vorweg

Eine Rezension zu schreiben kann so manches Mal eine ermüdende Erfahrung darstellen. Während einige Rezensionen scheinbar mühelos von der Hand gehen, brauchen andere Rezensionen Wochen oder gar Monate, um eine halbwegs lesbare Form anzunehmen und oft entscheide ich mich dann dennoch gegen eine Veröffentlichung. Aber es gibt Romane, die mich so bewegt haben, dass ich meine Leseerfahrung teilen möchte, mag die Form noch so halb gar sein. Zuletzt ist es mir so etwa mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues ergangen und nun ist es auch bei diesem Werk der Fall.

Dabei ist es mir schwergefallen, meine Leseerfahrung auch nur halbwegs in Worte zu fassen, die der Geschichte gerecht werden. Gleichzeitig wollte ich auch nicht die Lektüre des Romans verderben, indem ich jede Figur und jeden Aspekt erwähne. Da allerdings so vieles in diesem Roman zusammenhängt, erinnern die folgenden Zeilen möglicherweise eher an einzelne Versatzstücke als an eine einheitliche Rezension. Die Interpretation der Handlung überlasse ich dabei gerne der Literaturwissenschaft, mir geht es hier nur um meine eigenen Leseeindrücke.

Ein dunkles Weltbild

Schauplatz des nur wenige Tage umfassenden Romans ist, wie in so vielen russische Romanen, Sankt Petersburg. Dostojewski zeichnet dabei ein düsteres und trostloses Bild der bekannten Stadt und legt vor unseren Augen mit eindringlichen Bildern Armut und Elend der einfachen Bevölkerung offen. Ob nun Hunger, Betrug, Tierquälerei, Zwangsprostitution, Pädophilie oder sogar Mord – er macht vor keinem Thema halt und zeigt uns gnadenlos uns die dunklen Seiten der menschlichen Natur auf.

Meisterhafter Erzähler

Insbesondere macht er von den Vorteilen eines auktorialen Erzählers Gebrauch: Das volle Ausmaß des Schreckens erschließt sich nicht alleine aus den expliziten Schilderungen der oben genannten Aspekte, sondern erst durch einen weitläufigen Blick, der die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber dem Unrecht und Leid, welches anderen gilt, offenlegt.

Dabei erweist sich Dostojewski als veritabler Erzähler, der sich nicht auf diesen weitläufigen Blickwinkel beschränken muss. Vielmehr sind Handlung und Stil eng miteinander verflochten, sodass wir vom Stil auf den Zustand der Mittelpunkt stehenden Figuren schließen können. Phasenweise können wir daher auch so nah bei den einzelnen Figuren sein, dass wir von der Außenwelt gar nichts mitbekommen und uns vollkommen auf deren inneren Zustand konzentrieren.  

Deutlich wird das Ganze an der zentralen Figur des Raskolnikow: Zu Beginn der Handlung befindet er sich in einem Gedankentunnel und nimmt nur die negativen Geschehnisse um ihn herum wahr – diese dafür aber schonungslos detailliert. Mit abnehmender geistiger Zurechnungsfähigkeit werden Raskolnikows Schilderungen zunehmend verwirrender, die Beschreibungen verlagern sich in Form von inneren Monologen immer mehr in innere Vorgänge und lassen den Leser den fiebrigen Zustand der Figur hautnah miterleben.

Auch die langen und unübersichtlichen Dialoge mit anderen Figuren sind Ausdruck dieser Verwirrung. Verwirrend für den Leser, aber möglicherweise beabsichtigt ist auch, dass aufgrund der formalen Gestaltung die Übergänge zwischen Monolog und direkter Rede nicht immer klar erkennbar sind.

Was macht ein Mord mit dem Mörder?

Im Mittelpunkt des Romans steht dabei die Frage, was ein Mord aus dem Mörder macht. Unsere Hauptfigur Raskolnikow verfasste selbst einst als Student einen Aufsatz, in dem er die These aufstellte, dass es einigen größeren Menschen (wie seinem geliebten Napoleon) zustehe, „Läuse“ (nicht so tolle Menschen) zu opfern, um die Menschheit voranzubringen. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass er sich selbst als einen solchen großen Menschen betrachtet.

Nachdem er sein Verbrechen begangen hat, erweist sich seine These als brüchig: Fieberträume plagen ihn und er verfällt immer mehr dem Wahnsinn. Dennoch ist er nicht bereit, sich einzugestehen, dass er mit seiner Theorie falschlag. Stattdessen entwickelt er immer stärke Wahnvorstellungen und stürzt sein ganzes Umfeld mit sich in den Abgrund. Sein inneres Gemüt wechselt dabei zwischen Hochmut, Ekel und Reue: Einen Moment lang möchte er sich durch gute Taten reinwaschen und hilft den Schwachen und Armen, dann wieder möchte er an seine ursprüngliche These glauben und ein anderes Mal steht er kurz vor dem Selbstmordversuch oder befindet sich auf dem Polizeirevier um ein Geständnis abzulegen, nur um im letzten Moment mit einer fadenscheinigen Ausrede zu verschwinden.

(auch) ein Krimi

Sein Verhalten wird dabei so widersprüchlich und wirr, dass ihm schließlich der Polizeikommissar Pofirij auf die Schliche kommt. Das Problem: Der eigentlich hochintelligente Raskolnikow hat den Mord so perfekt geplant und durchgeführt, dass nur er selbst sich überführen kann. Zwischen den beiden beginnt ein hoch spannendes und nervenaufreibendes Katz-und-Maus Spiel, indem jede unachtsame Äußerung das Aus bedeuten kann und in der den Beteiligten jedes Mittel Recht ist.

Differenziertes und spannendes Figurenensemble

Daneben zeichnet sich der Roman durch eine Reihe von weiteren nicht minder interessanten und vielschichtig gezeichneten Figuren aus, die dem Leser noch lange Zeit in Erinnerung bleiben dürften. Da ich in meinen Augen allerdings bereits mehr als genug vom Inhalt des Romans offengelegt habe, möchte ich mich auf kurze Ausführungen beschränken (schließlich soll eine Rezension nicht die Lektüre eines Romans ersetzen).

Nur so viel: Der Roman beschränkt sich nicht auf den Mord an sich, sondern hält noch viele weitere dunkle Abgründe bereit, die nicht minder spannend sind als die Haupthandlung. Da wäre etwa der Pädophile Swidrigailow, der Säufer Marmeladow, die Schwester von Raskolnikow, der arrogante Emporkömmling Luschin oder der Student Rasumichin. So ergeben sich auch abseits des Mordfalles großartige und einprägsame Szenen, man denke etwa an das Familienessen mit Luschin.

Besonders in Erinnerung bleibt die Prostituierte Sonja, die ausgerechnet von ihrem Vater (eben jenem Marmeladow), zu ihrem Gewerbe gezwungen wurde, dennoch die selbstloseste, menschlichste und gütigste Figur des ganzen Romans darstellt und im Verlauf der Handlung eine entscheidende Rolle einnehmen soll.

Ein gutes Zeichen

Bei all den psychologischen, philosophischen und rechtswissenschaftlichen Fragen, die der Roman aufwirft und thematisiert, hält uns am Ende letztlich doch die einfache Frage nach der Auflösung der Handlung in ihrem Bann: Wie wird der Kampf im Inneren von Raskolnikow ausgehen? Wird er den Mord verkraften oder wird er sich freiwillig stellen? Oder gelingt es der Polizei doch, ihm den Mord nachzuweisen?

Schuld und Sühne?

Zur Übersetzung von Swetlana Geier selbst kann ich in Ermangelung weitergehender Sprachkenntnisse wenig sagen – mir ist jedenfalls keine Stelle aufgefallen, die auf einen groben Fehler hindeuten würde. Ihre Übersetzung gilt jedenfalls als Meilenstein in der deutschen Übersetzergeschichte und wurde von Kritikern mit Lob überhäuft. Festzuhalten ist zumindest, dass sich ihre Übersetzung immer noch erstaunlich modern im Sinne von leicht lesbar liest, ohne die Wurzeln des 19. Jahrhunderts zu verleugnen.

Kontroverser ist die Entscheidung des Verlages gewesen, den Titel im deutschsprachigen Raum erstmals seit 1921 wieder von Schuld und Sühne auf Verbrechen und Strafe zu ändern. Während der russische Titel angeblich keine genaue Übersetzung ins Deutsche zulässt, soll damit zumindest dem juristischen Charakter der Begriffe gerecht werden. Auch wenn ich das letztlich nicht beurteilen kann (Geier nannte beispielsweise Übertretung und Zurechtweisung als Alternative) muss ich feststellen, dass der „neue“ Titel rein inhaltlich deutlich präziser klingt als die sprachlich eingängigere „Schuld und Sühne“-Variante.

Was bleibt?

Was bleibt mir nach dieser Lektüre noch zu sagen? Verbrechen und Strafe ist ein Roman, der den Leser auf unterschiedlichsten Ebenen fordert und ihn mit der ganzen Bandbreite des menschlichen Lebens konfrontiert. Ohne sich um Genre-Grenzen zu scheren, beschäftigt sich Dostojewski mit den ganz großen und ganz kleinen Fragen des Lebens. Eine Warnung: Ich bin sicherlich keine zartbesaitete Persönlichkeit, aber auch mir ist die Lektüre an einigen Stellen ob des soghaften Schreibstils und der erdrückenden Geschehnisse schwergefallen. Mehr als einmal musste ich die Lektüre für einige Zeit unterbrechen. Der Roman muss also definitiv in der richtigen Stimmung und mit der nötigen Aufmerksamkeit gelesen werden. Wenn die Rahmenbedingungen jedoch stimmen, dann wird man mit einem Leseerlebnis belohnt, wie man es nur selten erleben kann. Definitiv ein Meisterwerk!

Bibliophile Aufmachung

Die mir vorliegende Ausgabe stammt aus dem altehrwürdigen Ammann Verlag, der 2010 seine Pforten schließen musste, und erfüllt alle Ansprüche, die ein bibliophiler Leser an ein solches Buch stellen kann. Der Einband selbst ist in dunkelblauen Leinen gebunden und begeistert mit einem goldgeprägten Titelschild und farblich passenden Kapital- und Leseband. Im Inneren erwartet uns eine Fadenheftung und stabiles Papier – mit einer Dünndruckausgabe haben wir es hier jedenfalls nicht zu tun.

Der Anhang selbst hält noch einige (sogar recht wenige) Anmerkungen, eine Chronographie und ein hilfreiches Namensverzeichnis bereit. Auf ein Nachwort müssen wir leider verzichten, hier hätte ich mir mehr Informationen erhofft als die dürftigen Ausführungen auf dem Schutzumschlag selbst.

Pro/Contra

Pro
  • intensive Charakterstudie
  • zahlreiche interessante und vielschichtige Charaktere
  • die Handlung entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann
Contra
  • das Ende wirkt leicht aufgesetzt und trübt den ansonsten tadellosen Eindruck

Fazit


Verbrechen und Strafe stellt eine intensive und fordernde Leseerfahrung dar und zählt völlig zurecht zu den Meisterwerken der klassischen Literatur. Empfindliche Gemüter sollten hingegen einen großen Bogen um diesen Roman machen!

autor: Fjodor M. Dostojewskij

Titel: Verbrechen und Strafe

Seiten: 766

Erscheinungsdatum: 1866

Verlag: Ammann Verlag

ISBN: 9783250101745

übersetzerin: Swetlana Geier

illustrator: –

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Miss Booleana
08.05.2023 20:34

Es ist für mich absolut faszinierend wieviel besser das Buch so ziemlich allen anderen gefällt außer mir. Und meiner damaligen Leserunde. Wir waren glaube ich zu dritt und ich meine wir waren alle etwas unterwältigt. Zwar haben mich die Charaktere um Raskolnikow sehr bewegt, aber eben gerade der Protagonist verhältnismäßig wenig. Dostojewski konnte es für mich nicht transparent machen wie wankelmütig der von einer Stimmungsphase in die nächste verfällt und ich fand alles furchtbar aufgesetzt und anstrengend.
“eigentlich hochintelligente Raskolnikow” und das perfekte Verbrechen habe ich dort beispielsweise gar nicht rausgelesen, sonderne in hemdsärmelig geplantes Verbrechen, das glücklicherweise größtenteils aufgeht.

Aber ich bin nicht hier um ein Buch schlecht zu machen, dass dir sehr gefallen hat. Ich suche nur immer den entscheidenden Hinweis, den Unterschied, warum das bei mir nicht so war. In der Tat haben mich die Nebencharaktere sehr berührt, ich finde die Neuübersetzung des Titels als “Verbrechen und Strafe” absolut wünschenswert, deine Ausgabe sieht fabelhaft aus und das Ende erscheint mir ähnlich herbeigezaubert wie dir.

Eugen
11.05.2023 06:41
Antwort an  Miss Booleana

Ich glaube Lesen geht immer in zwei Richtungen – das Buch beeinflusst uns als Leser und wir mit unserer Lese- und Lebenserfahrung beeinflussen auch das Buch/die Bucherfahrung.
Vielleicht ist es die Faszination für Grenzwelten (und viel wichtiger: die Art der Schilderung solcher Grenzwelten), die manche Leute mehr anspricht als andere und die dann über die durchaus vorhandenen Schwächen des Buches hinwegschauen lässt. 🤔

Im Großen und Ganzen finde ich deine Argumente nämlich mehr als nur vertretbar – ich selber habe meinen Fokus nur auf andere Aspekte gelegt und finde viele dieser Schwachpunkte nicht so wichtig, dass sie meine Meinung über diesen Roman entscheidend beeinflussen.

Ich glaube der Eindruck den du von den Leseerfahrungen hast ist auch stark verzerrt. Die wenigsten werden dieses Buch wirklich gelesen haben (Ich spreche jetzt von der wirklichen Welt) und ähnlich wie beim Herrn der Ringe oder Krieg und Frieden ersetzt eine eigene Meinung die Leseerfahrung – und da orientiert man sich natürlich vorrangig an der vermeintlich herrschenden Meinung, die Dostojewski verehrt.

Aber Legendenverehrung führt sowieso nur zu Enttäuschungen und Frust – von daher danke für deine ehrliche Meinung 🙂