
Wir
von Jewgenij Samjatin
24.10.2025
- Klassiker
- ·
- Science-Fiction
Wir von Jewgenij Samjatin zählt zu den Wegbereitern der modernen dystopischen Literatur, steht aber immer noch im Schatten von Klassikern wie 1984 oder Schöne neue Welt. Aus gutem Grund?
Aufgehen im Kollektiv
D-503 arbeitet als Konstrukteur des Raketenflugzeugs „Integral“ und möchte damit zur Ausbreitung des „Einzigen Staates“ über den Erdorbit hinaus beitragen. Als überzeugter Anhänger seiner Staatsform weiß er, dass das Glück nur durch das Aufgehen im Kollektiv möglich ist. Er verachtet alles, was mit menschlicher Individualität zusammenhängt.
Doch dann begegnet er der rebellischen I-330. Sie öffnet ihm die Augen und hebt seine streng logische Welt aus den Angeln. Doch Abweichler haben in einer postrevolutionären Welt keinen Platz …
Die erste moderne Dystopie
Denkt man an Klassiker der dystopischen Literatur, dann kommen Werke wie Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932), Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953) oder George Orwells 1984 (1948) in den Sinn. Doch schon 1921 vollendete Jewgenij Samjatin (Danke an Liegeradler für diesen Hinweis!) mit seinem Roman „Wir“ ein Werk, das Orwell ausdrücklich als Vorbild nannte. Und auch wenn das ZDF den Roman hierzulande verfilmte und immer wieder Neuauflagen erscheinen. „Wir“ steht immer noch im Schatten der soeben benannten Romane.
Unterstützung und Widerstand
Jewgenij Samjatins Biographie liest sich so wie das Schicksal vieler russischer Autoren nach der Oktoberrevolution. Er wurde 1884 in Russland geboren und arbeitete zunächst als Schiffsbauingenieur. Später schloss er sich den Bolschewiki an und durchlief Kampf, Verhaftungen und Exil. Während dieser Zeit begann er mit dem Schreiben und Veröffentlichen von Erzählungen.
Nach der Oktoberrevolution kehrte er nach Russland zurück und arbeitete zunächst eng mit Maxim Gorki zusammen. Doch angesichts der zunehmenden Unterdrückung der individuellen Freiheit kapselte er sich von seinen einstigen Freunden immer weiter ab.
Zum Bruch kam es 1921, als er versuchte, seinen Roman „Wir“ zu veröffentlichen. Die Publikation wurde natürlich verboten, aber über Umwege gelang ihm die Verbreitung. 1931 setzte er sich schließlich – mit Stalins Erlaubnis – ins Pariser Exil ab. Was machte seinen Roman aus damaliger Sicht so gefährlich?
Die allerletzte Revolution
Samjatin entwirft ein düsteres Szenario, das zwar eindeutig in einer entfernten Zukunft angesiedelt ist. Das dennoch deutliche Züge der sich abzeichnenden Sowjetunion trägt. Unsere Handlung spielt im „Einzigen Staat“, eigentlich nur eine Stadt. In der sich die verbliebene Menschheit nach einem langen Krieg und der „letzten Revolution“ zurückgezogen hat. An der Spitze des Staates steht der „Wohltäter“, der zur Bewachung „Beschützer“ einsetzt.
Sämtliche Aspekte der menschlichen Individualität werden entweder unterdrückt oder streng reglementiert und normiert. Im Vordergrund stehen stets das Kollektiv und das durch die Aufgabe der individuellen Freiheit entstehende Glück. Beispielsweise haben Menschen statt Namen einfache Nummern und leben in Glashäusern, die die Überwachung erleichtern. Vom Schlaf über die Ernährung und Arbeit bis zum Sexualleben wird beinahe jeder Moment des Tages vorgegeben.
Widerstand ist möglich
Die gläserne Fassade weist aber auch Brüche auf: Widerstandsgruppen arbeiten im Verborgenen und außerhalb der Stadt scheinen Wilde zu leben. Tägliche, ideologisch vermarktete Hinrichtungen weisen darauf hin, dass diese Form des Lebens längst nicht allen Menschen gefällt. Unser Autor macht deutlich, dass sein Zukunftsentwurf nicht zwangsläufig eintreten muss. Widerstand ist möglich – zu seiner Zeit eine gefährliche Botschaft.
Auch wenn das Szenario mittlerweile hinlänglich bekannt ist und für kein Aufsehen mehr sorgt: Aus heutiger Perspektive ist erstaunlich, was für eine visionäre Kraft diesem Roman innewohnt. Im Gegensatz zu seinen berühmten Kollegen hatte Samjatin keine Praxisbeispiele vor Augen, wie totalitäre Systeme systematisch die menschliche Individualität unterdrückten. Das macht den Roman alleine schon aus einer historischen Perspektive interessant.
Mathematisch-logischer Stil
Jewgenij Samjatin hat aber nicht nur als einer der ersten Schriftsteller der Moderne ein überzeugendes dystopisches Szenario entworfen. Er ist auch ein ziemlich guter Schriftsteller, der sein Handwerk beherrscht.
Sein Roman setzt sich aus Tagebucheinträgen zusammen, die von D-503 aus der Ich-Perspektive verfasst wurden. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei weniger Dialoge und mehr lange Monologe vorliegen. Diese verdeutlichen das allmähliche Erwachen einer lange Zeit unterdrückten Persönlichkeit. Samjatin bedient sich einer mathematisch-logischen Sprache, deren Sachlichkeit die Unmenschlichkeit des Systems verkörpert. Die gleichzeitig hilflos überfordert mit menschlichen Emotionen und individuellen Bedürfnissen ist.
Zudem ist der Roman gespickt mit vielfältigen Anspielungen und Motiven, in denen sich der Autor aber glücklicherweise nicht verliert. Der Fokus auf das Innenleben unseres Protagonisten und die mathematische Perspektive verhindern zwar, dass nennenswert Spannung aufgebaut wird – Samjatin geht es aber ohnehin nicht darum, eine spannende Abenteuergeschichte zu erzählen. Zumal die Erzählung nicht lang genug ist, um so etwas wie Durststrecken aufweisen zu können.
Was bleibt?
Bei Wir von Jewgenij Samjatin handelt es sich um einen interessanten Vertreter der dystopischen Literatur. Aus historischen und handwerklichen Gesichtspunkten heraus handelt es sich um eine durchaus lohnende Lektüre. Sonderlich innovativ oder gar spannend ist sie aus heutiger Perspektive allerdings nicht (mehr). Sicherlich lesenswert, ein Meisterwerk darf man jedoch nicht erwarten.
Gewöhnliches Taschenbuch
Rein äußerlich handelt es sich bei meiner Ausgabe um ein gewöhnliches altes Heyne-Taschenbuch aus dem Jahre 1970. Hohe Anforderungen darf man dabei natürlich nicht stellen, man bekommt genau das, was man auch erwartet. Die Übersetzung stammt von der bekannten Übersetzerin Gisela Drohla.
Pro/Contra
Pro
- Vorreiter der modernen dystopischen Literatur
- Situationsbedingt angemessener Schreibstil
Contra
- Szenario heute hinlänglich bekannt
Fazit
Wir von Jewgenij Samjatin ist ein guter Roman, der solide Unterhaltung bietet und vor allem aus historischen Gründen interessant ist. Darüber hinaus kein Muss, aber lesenswert.
autor: Jewgenij Samjatin
Titel: Wir
Seiten: 142
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Heyne Verlag
ISBN:
Übersetzerin: Gisela Drohla
illustrator: –








