Zwei Exemplare von „Der Garten über dem Meer“ von Mercè Rodoreda, ein Taschenbuch und ein gebundenes Buch, nebeneinander auf einer Holzfläche platziert.

Der Garten über dem Meer

von Mercè Rodoreda


05.07.2024

  • Klassiker

Mercé Rodoreda gilt als eine der bedeutendsten katalanischen Schriftstellerinnen aller Zeiten. Mit Der Garten über dem Meer erschien hierzulande nach langer Wartezeit ihr zweiter wichtiger Exil-Roman. Doch hat sich das Warten gelohnt?

Der spanische Gatsby?

Unser namenloser Gärtner bewohnt schon seit Jahrzehnten ein kleines Häuschen in einem Vorort von Barcelona und kümmert sich um den Garten eines angrenzenden Herrenhauses. Die neusten Eigentümer des Hauses sind die frisch vermählten Francese und Rosamaria. Als junges und reiches Paar leben sie ein scheinbar sorgenfreies Leben und feiern berauschende Party mit unzähligen Freunden. Doch auch hinter dieser glitzernden Fassade lauern Abgründe …

Autorin im Exil

Die 1908 in Barcelona geborene Mercé Rodoreda gilt als eine der bedeutendsten katalanischen Schriftstellerinnen aller Zeiten, auch wenn sie beinahe genauso viel Zeit im Ausland wie in ihrer Heimat verbrachte. Früh veröffentlichte sie erste Romane, die jedoch noch wenig Beachtung fanden. Eine unglückliche erste Ehe und Franco – sie war zwischenzeitlich für die katalanische Generalität tätig gewesen – zwangen sie ins Exil. So lebte sie jahrzehntelang in Frankreich und in der Schweiz – ihre Heimat sollte sie erst im Jahre 1972 wiedersehen.

Berühmt wurde sie in erster Linie für ihren 1962 erschienenen Roman „Auf der Placa del Diamant“, aber auch der 1967 erschienene (Der) Garten über dem Meer („Jardí vora el mar“) fand seine Leserschaft. Allerdings nicht in Deutschland, erst 2014 sollte eine deutsche Übersetzung durch Kirsten Brandt folgen. Zurecht?

Downton-Abbey Vibes

Die Handlung wirkt auf den ersten Blick nicht sonderlich einfallsreich und erinnert aus der Ferne an eine Mischung aus dem großen Gatsby und Downton-Abbey.

Rodoreda versetzt uns sechs Jahre lang in einen kleinen Vorort von Barcelona, zeitlich irgendwo zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Wir erleben berauschende Partys (unsere Hauptfigur interessieren dabei zumeist nur die zertrampelten Blumen…), exotische Tiere, extravagante Freizeitbeschäftigungen, gefährlich gelangweilte Snobs und eigentlich alles, was man von der Oberschicht der 1920er auch erwartet.

Die Abwesenheit von Glück

Doch auch wenn es vordergründig immer und Geld und Macht zu gehen scheint, spielen zwischenmenschliche Beziehungen und innere Konflikte die eigentliche Hauptrolle. Neben den üblichen Emotionen wie Gier, Neid und Missgunst liegt der Fokus insbesondere auf der Liebe – oder vielmehr auf ihre Abwesenheit.

Wie Roger Willemsen schon in seinem Nachwort herausstellt, erlebt keine Figur in diesem Roman so etwas wie die wahre Liebe – entweder steht sie noch am Anfang, vor ihrem bitteren Ende oder das Glück ist nur vorgetäuscht. So kommen wir am Ende auch mehr oder weniger überraschend zur Erkenntnis, dass Geld und Glück nicht zwangsläufig miteinander verbunden sind.

Faszinierendes Figurenensemble

Unsere Autorin fährt ein für rund 240 Seiten recht großes Figurenensemble auf. Die wichtigste Figur ist dabei unser Gärtner. Er ist nicht nur der Einzige, der ganzjährig am Handlungsort anwesend ist. Er ist gleichzeitig auf mehreren Ebenen Mittelpunkt und Bindeglied.

Er genießt das Vertrauen aller anderen Figuren und ist doch immer noch so distanziert, dass er als einzige Figur einen Überblick über sämtliche Geschehnisse behält. Das hätte ihn aber gleichzeitig auch zu einer recht blassen Figur gemacht, wenn nicht zum Abschluss des Romans ein Gefühlsausbruch ihn in ein völlig anderes Licht gerückt hätte.

Auch sonst ist der Roman mit zahlreichen interessanten Nebenfiguren aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten bevölkert, die die Geschichte äußerst lebendig machen – nur sie alle aufzuzählen würde den Rahmen dieser Rezension sprengen.

Unzuverlässiger Erzähler

So weit, so gewöhnlich. Was diesen Roman letztlich ausmacht, sind vor allem die handwerklichen Komponenten.

So erwartet uns mit unserem Ich-Erzähler ein klassischer, unzuverlässiger Erzähler, der jedenfalls vorgibt, sich nicht mehr an alles erinnern zu können und viele wichtige Momente nicht aus erster Hand erfährt, sondern von anderen Figuren erzählt bekommt. Dieses Spiel mit den Perspektiven macht auch den Reiz des Romans aus. Wir erhalten Informationen erst über mehrere Umwege, müssen vieles herleiten und können uns nicht vollumfänglich auf jede Aussage verlassen.

Dass sich die Autorin dabei einer klaren und einfachen Sprache bedient, macht die Sache für uns Leser wenigstens einigermaßen erträglich.

Spiel mit Erzählperspektiven

Ein netter Nebeneffekt der unterschiedlichen Perspektiven: Für unseren Gärtner spielen Blumen natürlich eine große Rolle. Und auch ich als jemand ohne besonderen Bezug zu Blumen konnte mich an den Beschreibungen des Gärtneralltags erfreuen, die stark zur sommerlichen Atmosphäre beitrugen.

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist, dass vieles deutlich hörbar unausgesprochen bleibt und damit einen breiten Deutungs- und Interpretationsspielraum eröffnet. Ob es nun um innere Konflikte oder zwischenmenschliche Beziehungen geht – die Figuren reden pausenlos aneinander vorbei, sprechen sich nicht aus und stürzen sich damit selbst in ihr Unglück.

Kein Wunder, dass pausenlos eine melancholische und bisweilen nostalgische Grundstimmung vorherrscht. Keine Figur ist wirklich glücklich, jede trägt ihr Päckchen, jeder trauert einer wichtigen Sache hinterher und überall herrscht Sehnsucht nach einem besseren Leben – man hätte kein besseres Setting als die Küste dafür auswählen können.

Was bleibt?

Der Garten über dem Meer von Merce Rodoreda ist ein melancholisch-sommerlicher Roman, der die Leserschaft weder unter- noch überfordert. Die Handlung wirkt nicht sonderlich einfallsreich, dafür machen die Figuren die 1920er wieder lebendig und machen Defizite im Plot mehr als wieder wett.

Handwerklich traut sie ihrer Leserschaft einige Experimente zu, ohne sie dabei völlig zu überfordern oder zu innovativ zu werden. Kritisieren kann man allenfalls eine gewisse Beliebigkeit der im Roman dominierenden Elemente. Interpretationen sind sowohl auf kleinen als auch auf großen Ebenen möglich und letztlich kann man alles über diesen Roman sagen und alles mit ihm verbinden, ohne das es wirklich falsch wäre.

Darum leider kein Meisterwerk, aber definitiv lesenswert.

Bibliophile Wohltat

Auch dieser Band aus der bibliophil gestalteten Klassiker-Reihe aus dem Mare Verlag kann vollumfänglich überzeugen. Neben dem wie immer sehr stabilen und wunderbar minimalistisch gestalteten Schuber überzeugt auch das Buch selbst, etwa durch einen bedruckten Leineneinband mit sommerlichen Blumenmotiven, die den Inhalt des Romans perfekt wiedergeben.

Auch im Inneren erwarten und hervorragend aufeinander abgestimmte Komponenten. So finden wir ein farblich passendes – dafür aber auch ein wenig eintöniges – Vorsatz- bzw. Nachsatzpapier vor, einen sehr angenehm gesetzten Text, ein Leseband und selbstverständlich dürfen wir uns auch über eine Fadenheftung freuen.

Dem von Kirsten Brandt übersetzten Band schließt sich noch ein Nachwort des Herausgebers Roger Willemsen an. Auch wenn man seinen Zeilen die Begeisterung für diese Autorin entnehmen kann, drückt sich dieser leider so geschwollen und umständlich aus, dass man den Inhalt gut und gerne um mindestens zwei Drittel hätte reduzieren können.

Pro/Contra

Pro
  • Melancholisch-nostalgisch
  • Sommerliche Grundstimmung
  • Wunderbares Figurenensemble
Contra
  • Inhaltlich ein wenig beliebig

Fazit


Der Garten über dem Meer von Mercé Rodoreda ist zwar kein Meisterwerk, aber dennoch ein lesenswerter melancholisch-sommerlicher Roman.

autorin: Mercè Rodoreda

Titel: Der Garten über dem Meer

Seiten: 240

Erscheinungsdatum: 2014 (1967)

Verlag: Mare Verlag

ISBN: 9783866480339

übersetzerin: Kirsten Brandt

illustratorIn: –

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