Lucy Gayheart
von Willa Cather
03.11.2023
- Klassiker
In ihrem 1935 erschienenen Spätwerk Lucy Gayheart spielt Willa Cather gleich mehrfach mit den Erwartungen ihrer Leserschaft. Doch kann der auch Roman darüber hinaus überzeugen?
Das Leben als Bühne
Das Leben scheint es mit der jungen Lucy Gayheart gut zu meinen: Als Tochter eines deutschen Musiklehrers und Uhrenmachers ist sie ihrem provinziellen Heimatdorf Haverford in Nebraska entkommen und studiert erfolgreich Musik in der Großstadt Chicago.
Ihr Heimatdorf vergöttert sie, ihr Professor respektiert sie und schon während des Studiums erhält sie erste Jobangebote. Und auch der reiche und junge Erbe Harry Gordon hat bereits ein Auge auf sie geworfen. Doch Gordon bedeutet gleichzeitig auch Haverford und so stürzt sich Lucy instinktiv auf den deutlich älteren Sänger Sebastian Clement.
Doch trifft sie damit die richtige Entscheidung? Und spielt dies überhaupt eine Rolle?
Spätwerk einer Meisterin
Als die hierzulande sträflich vernachlässigte Willa Cather 1935 den Kurzroman Lucy Gayheart veröffentlichte, konnte sie bereits auf ein stattliches Werk zurückblicken. Der Roman sollte der vorletzte ihrer insgesamt elf Romane werden, die von einigen Kurzgeschichtensammlungen und zwei Lyrik-Bänden flankiert werden.
Wenig überraschend treffen wir auch hier auf einige Aspekte, die bereits in Meine Antonia eine tragende Rolle gespielt haben: Der Clash der Kulturen als elementarer Bestandteil des Lebens in Nebraska, die Gegensätze von Dorf und Stadt und der (angestrebte) gesellschaftliche Aufstieg. Im Gegensatz zu Meine Antonia wählt sie dieses Mal jedoch einen deutlich weniger patriotischen Weg und verzichtet auf allzu verherrlichende und idyllische Darstellungen des amerikanischen Lebens.
Meisterhafte Erzählerin
Vielmehr ist Lucy Gayheart als ein Werk konzipiert, dass sich trotz des recht schmalen Umfangs jeglicher Einordnung und Kategorisierung entzieht. Das fängt bereits bei der Erzählperspektive an, die im Laufe des Romans hin und herwechselt und die unterschiedlichen Figuren aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.
Weiterhin gelingt es der Autorin mit wenigen Worten die Natur Nebraskas bildreich vor unseren Augen entstehen zu lassen. Ihre Motive sind dabei düster und dunkel, nicht ohne Grund spielt der größte Teil der Handlung während dunklerer Jahreszeiten. Dass gleichzeitig in jedem Bild ein Hinweis auf den weiteren Verlauf der Handlung versteckt ist, ist ein weiteres Zeichen wahrer erzählerischer Meisterschaft.
Umso stärker wirkt der Kontrast zum lebendigen und leuchtenden Chicago. Einer Stadt, in der das Leben genauso fließend verläuft wie die alles beherrschende Musik. Die Abschnitte dort wirken erzählerisch wie ein wilder Ritt, kaum ein Augenblick, an dem sich unsere Protagonisten ausruhen können, immerzu geht es weiter, von der Probe zum Auftritt zum Restaurant und so fort, ohne dass auch nur Zeit zum Durchatmen verbleibt.
Musik als Bestandteil der Handlung
Gerade die Abschnitte in Chicago sind mit zahlreichen musikalischen Anspielungen gespickt. Auch wenn die Anmerkungen diesbezüglich für Aufklärung sorgen, bin ich in Sachen Musik einfach nicht bewandert genug, um jedes Detail zu verstehen. Scheinbar scheint sich Cathers Musik-Auswahl jedoch hervorragend in das Gesamtkonstrukt einzugliedern. Der Roman lässt sich allerdings auch ohne diese Kenntnisse hinreichend verstehen und genießen – dazu reicht bereits der abgedruckte Text.
Überraschende Wendungen
Die Handlung selbst weist bereits von Anfang an so viele Überraschungen auf, dass ich eigentlich nicht viele Worte dazu verlieren möchte. Nur so viel: Mag die Inhaltsbeschreibung anfangs noch auf eine gewöhnliche Liebesgeschichte hindeuten und mögen wir im zweiten Schritt eine Emanzipationsgeschichte erwarten, so dreht sich die Handlung gleich mehrfach in verschiedene Richtungen und lässt uns am Ende fassungslos zurück.
Cather behandelt dabei Themen wie den gesellschaftlichen Aufstieg, streift Migrationsaspekte, die Emanzipation der Frau und den Unterschied von Stadt und Land. Rasch wendet sich jedoch das Blatt und wir stellen uns in einem melancholisch düsteren Tonfall die Frage, wie und ob wir mit Rückschlägen umgehen können, ob man Sicherheit oder die große Freiheit wählen sollte und ob wir überhaupt Kontrolle über unser Leben erlangen können
Realistische Charaktere
Das Herzstück des Romans bilden die zahlreichen Charaktere, die man am ehesten noch als realistisch gezeichnet bezeichnen kann. Wirkliche Sympathieträger oder Hassfiguren finden wir hier nicht. So haben wir es weder mit künstlich überhöhten noch mit übertriebenen Menschen zu tun.
Niemand wird durch irgendein Ereignis plötzlich Gut oder Böse, diese Eigenschaften gelten sowieso nicht. Vielmehr sind alle Figuren dem wirklichen Leben nachempfunden und könnten bis hin zur kleinsten Nebenfigur genauso auch im wirklichen Leben auftauchen.
Was bleibt?
Lucy Gayheart von Willa Cather ist ein herausragendes Stück Literatur, dass trotz seiner Kürze in beinahe allen Aspekten überzeugen kann. Der Stil zeugt von wahrer Meisterschaft. Spielerisch geht Cather mit verschiedenen Erzählperspektiven um, erhöht das Tempo in der lebendigen Großstadt Chicago und verliert sich in malerischen Landschaftsbeschreibungen im ländlichen Nebraska.
Die Handlung ist in mehrfacher Hinsicht überraschend und die behandelten Motive sind trotz der sie durchziehenden Melancholie zeitlos. Nicht zuletzt findet man eine so realistische Figurenzeichnung nur äußerst selten. Insgesamt handelt es sich um ein wahres Meisterwerk, das völlig zurecht neu aufgelegt wurde. Ein idealer Einstieg in das Werk der Autorin!
Ansprechende Buchgestaltung
Die mir vorliegende Ausgabe stammt aus dem Manesse Verlag und wurde in der legendären Bibliothek der Weltliteratur veröffentlicht. Neben der obligatorischen Fadenheftung erwartet uns hochwertiges Papier (kein Dünndruck), ein Leseband und natürlich ein stabiler Einband. Dieser ist mit einem leinenähnlichen Stoff überzogen, der aber eben gerade keinen richtigen Leineneinband ersetzen kann – dafür den Band allerdings preislich erschwinglich macht.
Die farbliche Gestaltung des Bandes kann insgesamt überzeugen. Die einzelnen Komponenten wurden hervorragend aufeinander abgestimmt und neben dem bedruckten Vor- und Nachsatzpapier überzeugt ein weiteres Mal die gefällige Gestaltung des Schutzumschlages.
Die Übersetzung stammt von Elisabeth Schnack (1957) und wurde für die Neuausgabe von Susanne Ostwald durchgesehen. Im Anhang finden wir noch einen kurzen Anmerkungsapparat, der vor allem angesichts der vielen musikalischen Anspielungen sehr hilfreich ist. Das Nachwort von Alexa Hennig von Lange fällt unter die Kategorie „Wie man einfache Inhalte sprachlich möglichst umständlich verpackt“ und bietet leider keinen weiteren Mehrwert.
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Pro/Contra
Pro
- Realistische Figuren
- Meisterhafter Schreibstil
- Universelle Themen
Contra
- Musikalische Anspielungen nicht für jeden Leser sofort greifbar
Fazit
Lucy Gayheart von Willa Cather entzieht sich jeder Kategorisierung durch den Leser und kann in jeglicher Hinsicht überzeugen. Ein Meisterwerk!
autorin: Willa Cather
Titel: Lucy Gayheart
Seiten: 304
Erscheinungsdatum: 2023 (1934)
Verlag: Manesse Verlag
ISBN: 9783717525677
übersetzerin: Elisabeth Schnack
illustratorIn: –
Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt