Ein Buch mit dem Titel „Der Wanderer auf dem Eis“ von Volter Kilpi liegt auf einer Holzoberfläche. Auf dem Cover ist ein verschneiter Pfad abgebildet.

Der Wanderer auf dem Eis

von Volter Kilpi


25.11.2023

  • Klassiker

Dreißig Jahre arbeitete Volter Kilpi im Verborgenen an seiner Schären-Trilogie, bevor er die finnische Literaturszene mit diesen drei umfangreichen Romanen auf den Kopf stellte. Doch was macht den Wanderer auf dem Eis so besonders?

Der Überraschungserfolg

Volter Kilpi wurde im Jahre 1874 in Kustavi, einer Gemeinde im Schären-Archipel geboren. Schon früh wurde seine Faszination für Geschichten und ferne Länder geweckt, wusste sein Vater als erfolgreicher Kapitän doch allerhand zu berichten.

Kilpi selbst sollte allerdings einen anderen Weg einschlagen und besuchte zunächst ein Gymnasium in Turku und studierte anschließend in Helsinki. Während dieser Zeit veröffentliche er bereits drei – allenfalls mäßig erfolgreiche – Romane. Fortan sollte er sich auf seine Bibliothekar-Laufbahn konzentrieren und dreißig Jahre lang kein Wort veröffentlichen.

1933 erschien dann mit Im Saal von Alastalo (Alastalon salissa) völlig überraschend der erste Teil seiner Schären-Trilogie, dem bereits ein Jahr später mit pitjäjän pienempiä (Die Kleinen der Gemeinde) ein Sammelband mit Erzählungen über das Leben der einfachen Menschen auf den Schären-Inseln folgte. Aus diesem Band stammen auch die hier versammelten Kurzgeschichten.

Zahnrädchen im Getriebe des Lebens

So begegnen wir in der titelgebenden Kurzgeschichte Der Wanderer auf dem Eis dem alten Taavetti, der Wacholderholz transportiert, um es zu – für die Schiffsfahrt unverzichtbare – Holznägeln zu verarbeiten. Währenddessen lässt er sein Leben noch einmal Revue passieren und muss letztlich eine bittere Bilanz ziehen.

In Lundström von Kaaskeri treffen wir auf den ehemaligen Kapitän Lundström. Dieser gilt zwar als navigatorisches Genie, findet aber seit einem von ihm verschuldeten Unfall keine Anstellung mehr. Stattdessen darf er sich als Navigationslehrer mit seinen Schülern und seiner Alkoholsucht herumschlagen.

In der letzten Geschichte Die Seemannswitwe treffen wir mit Riikka auf eines von Lundströms Opfern. Sie verlor ihren Mann vor dreißig Jahren bei dem von Lundström verursachten Unfall und musste sich fortan als Wergzupferin alleine durchs Leben schlagen – immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, wie anders ihr Leben hätte verlaufen können…

Diese kurzen Zusammenfassungen verraten bereits: Der Bibliothekar Kilpi stellt in seinen Erzählungen keine bedeutenden Persönlichkeiten, sondern vermeintlich unbedeutende Einzelschicksale in den Mittelpunkt. Allen gemein ist, dass jeder für sich einen wichtigen Beitrag für das Leben der Schärengemeinde leistet, sich selbst aber als gescheiterte Existenz betrachtet.

Bildgewaltige Sprache

Äußerlich passiert dabei nicht wirklich viel. Unsere Figuren bewegen sich von Ort zu Ort und hängen zumeist ihren Gedanken nach. Wirkliche menschliche Interaktionen finden wir zuvorderst in ihren Gedanken und Erinnerungen – und genau dort beginnt auch die Magie des Volter Kilpi.

Die Geschichten mögen zwar nicht mit einer spannenden Handlung glänzen können, dafür aber umso mehr mit einer intensiven, lebendigen und bildgewaltigen Sprache. Metapher reiht sich an Metapher, Wiederholung an Wiederholung und trotz oder gerade wegen der unzähligen Nebensätze entsteht ein Rhythmus, dem man sich nur schwer entziehen kann.

Immer stärker wird man in die Gedankenwelt der Protagonisten eingesogen, fühlt sich immer stärker mit ihnen verbunden und scheint ihren Schmerz, ihre Einsamkeit und ihre Wehmut genauso gut spüren zu können wie sie selbst.

Der Leser ist gefordert

Kilpis vielfältiger, wortreicher und mannigfaltiger Stil stellt dabei so ziemlich das Gegenteil von Hemingways kargen Sätzen dar und weiß dennoch oder gerade deswegen zu begeistern. Allerdings erfordern seine Sätze enorme Konzentration. Gedanken beginnen auf der einen Seite und enden erst sieben Seiten später und auch einfache Sätze können sich über eine ganze Seite ziehen. Will man dann auch noch die Schönheit von Kilpis Wortschöpfungen genießen, so muss man immer bei der Sache bleiben. Auch aus diesem Grund ist dies ein Buch, dass besser als Urlaubslektüre denn als Einschlafhilfe taugt.

Angesichts der Fülle an Bildern und den nicht enden wollenden Satzstrukturen kann man es dem Übersetzer Stefan Moster gar nicht hoch genug anrechnen, welche Arbeit er bereits vollbracht hat – zumal er mit Der Saal von Alasto auch noch einen richtigen Tausend-Ender erlegt hat. An dieser Stelle findet ihr bei Interesse auch ein Interview des Übersetzers bei TraLaLit.

Was bleibt?

Der Wanderer auf dem Eis von Volter Kilpi ist eine Sammlung von Geschichten, die vor allem aufgrund ihrer sprachlichen Schönheit überzeugen können. Die Lektüre erfordert dabei zumindest einen freien Kopf, um den seitenübergreifenden Gedanken folgen zu können, daher sollte man sich diesem Buch nur zuwenden, wenn man die entsprechende Zeit dafür freiräumen kann. Lesenswert!

Schöner „kleiner“ Mare-Klassiker

Der Wanderer aus dem Eis entstammt der „kleinen“ Klassikerreihe des Mare Verlages und entspricht handwerklich den restlichen Bänden dieser Reihe. Die Bücher sind deutlich kleiner als die großen Ableger und auf eine Fadenheftung müssen wir auch verzichten. Dafür dürfen wir uns über einen wirklich schönen bedruckten Leineneinband mitsamt farblich angepassten Leseband freuen.

Auch dieser Band ist mit einem Papierschuber – ähnlich dem der Anderen Bibliothek – ausgestattet und begeistert mangels Schutzfunktion immerhin mit einem klaren und minimalistischen Design. Im Anhang finden wir noch ein kurzes Nachwort des Übersetzers Stefan Moster, dass die wichtigsten Hintergründe erläutert und Lust auf mehr macht.

Bibliographie

Mehr Weniger

Pro/Contra

Pro
  • Wunderschöne Satzkonstruktionen
  • Einfallsreiche Wortschöpfungen und Metaphern
  • Intensive Leseerfahrung
Contra
  • Erfordert konzentriertes Lesen
  • Leider nur eine Auswahl an Kurzgeschichten

Fazit


Volter Kilpis Kurzgeschichtensammlung Der Wanderer auf dem Eis kann durch sprachliche Brillanz und intensive Schilderungen überzeugen. Für jeden konzentrierten Leser ein Genuss!

autor: Volter Kilpi

Titel: Der Wanderer auf dem Eis

Seiten: 256

Erscheinungsdatum:

Verlag: Mare Verlag

ISBN: 9783866486645

übersetzer: Stefan Moster

illustratorIn: –

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