buch cover frontal miro monster

Ganz gewöhnliche Monster

von J.M. Miro


09.12.2022

  • Phantastik

Ganz gewöhnliche Monster (Ordinary Monsters) von J.M. Miro erinnert auf den ersten Blick an eine Mischung aus X-Men und Charles Dickens. Doch kann dieser ungewöhnliche Ansatz überzeugen?

Zwischen Charles Dickens und X-Men

Auf den ersten Blick scheinen wir uns mit diesem Roman in gewohnten Fahrwassern zu bewegen: Magisch begabte Kinder, abgelegene Internate als Refugien, unklare Machtverhältnisse, dunkle Prophezeiungen – isoliert betrachtet ist wohl alles schon einmal da gewesen.
Der Clou des Ganzen? J.M. Miro versetzt die Handlung an das Ende des 19. Jahrhunderts und bringt mit diesem Kniff frischen Wind in diese ansonsten schon (zu) oft durchgespielte und eingefahrene Situation.

Den Mittelpunkt unserer Erzählung bildet dabei das in Schottland gelegene Cairndale-Institut, dass von dem geheimnisvollen Dr. Berghast geleitet wird. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kinder mit übernatürlichen Fähigkeiten, Talente genannt, dort zu versammeln und vor der Außenwelt zu schützen.

Als eines Tages der kleine Junge Marlowe auftaucht, dessen Fähigkeiten die anderer Talente bei weitem übertreffen, weckt er auch das Interesse dunkler Mächte, die seine Fähigkeiten für ihre eigenen Zwecke einsetzen wollen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Doch auch das Cairndale-Institut selbst birgt in seinen Gemäuern so manches Geheimnis …

Wer ist J.M. Miro?

Bei J.M. Miro handelt es sich um das Pseudonym des kanadischen Lyrikers und Autors Steven Price. Hierzulande sind seine Romane Der letzte Prinz und Die Frau in der Themse im Diogenes Verlag erschienen und insbesondere Letzterer scheint uns mit der Schilderung Londons im 19. Jahrhundert einen kleinen Hinweis darauf zu geben, was uns in Ganz gewöhnliche Monster erwartet.

Reise ins 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert ist dabei das richtige Stichwort, schließlich versetzt uns der Autor in genau diese Zeit, auch wenn er sich dieses Mal nicht auf London beschränkt, sondern die gut 800 Seiten für eine erstaunlich entschleunigte Tour durch die Weltgeschichte nutzt. Neben dem bereits erwähnten Edinburgh spielen dabei auch Orte wie London, Wien, einige amerikanische Städte inklusive dem Wilden Westen und sogar Tokio eine nicht unerhebliche Rolle im Geschehen.

Miro gelingt es dabei, den Leser ins 19. Jahrhundert zu versetzen, in dem er sowohl auf größerer als auch kleinerer Ebene die Eigenheiten dieser Zeit deutlich macht. Auf einer größeren Ebene können dies globale Phänomene, wie (nicht vorhandene) Frauenrechte, Rassismus und Kinderarbeit sein. Auf einer kleineren Ebene begegnen uns hingegen alltagsnahe Umstände wie die mangelhafte elektrische Beleuchtung, eine ausbaufähige Infrastruktur oder auch die Bedrohung durch Phänomene wie Regen oder Nebel.

Langwierige Reiseschilderungen

Ein weiteres wichtiges Mittel, um uns in vergangene Zeiten zu versetzen und gleichzeitig ein Kennzeichen der ersten Romanhälfte ist die Schilderung von Reisen. Natürlich standen keine Autos oder gar Flugzeuge zur Verfügung, sodass in den meisten Fällen ein Rückgriff auf Kutschen und Dampfschiffe nötig war – mit der Konsequenz, dass Reisen einen relativ langen Zeitraum in Anspruch nahmen.

J.M. Miro hat sich glücklicherweise dazu entschlossen, diesem Umstand gerecht zu werden und belässt es in den meisten Fällen auch erzählerisch bei diesem Tempo. Gerade in der ersten Hälfte befinden wir uns damit außergewöhnlich oft und lange in diversen Transportmitteln wie Kutschen oder Zügen.

Natürlich schreitet die Handlung dadurch nur sehr langsam voran, da die Positionierung der Figuren sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Andererseits gibt es wohl kein direkteres Mittel, um uns in das 19. Jahrhundert versetzt, als uns die damaligen technologischen Grenzen aufzuzeigen. Das soll aber nicht heißen, dass sich die Figuren die ganze Zeit auf Kaffeefahrt befinden. Natürlich hat Miro die Handlung so konstruiert, dass sich diverse Schlüsselszenen mit den Reisen überschneiden. Auch die spärlichen, aber dafür umso wirkungsvolleren Action-Szenen des Buches finden bis auf wenige Ausnahmen auf Reisen statt.

Zahlreiche Rückblenden

Zur Erhöhung der Spannung nutzt Miro zudem zahlreiche Rückblenden in Verbindung mit dem schamlosen Einsatz von Cliffhangern. Zielgerichtet manövriert uns Miro in spannungsgeladene Situationen, deren Auflösung wir sehnlichst herbeifiebern, nur um uns dann mit einer Rückblende zu vertrösteten. Die Rückblenden selber können dabei beachtliche Ausmaße annehmen, tragen jedoch viel zum Verständnis der Haupthandlung bei und sind nicht minder spannend als das eigentliche Geschehen.

Düstere Atmosphäre

Ein weiteres Kennzeichen des Romans ist die düstere und beklemmende Atmosphäre, die Miro den ganzen Roman über aufrechterhält. Dies beruht zum einen auf den zeitlichen Umständen und geht damit von den Menschen selbst aus, sei es Form einer dunklen und dreckigen Welt oder durch die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten sowie der gnadenlosen Schilderung von Kinderarbeit.

Daneben durchziehen allerdings auch Horror-Elemente die Handlung: So sind seine Talente keine Superhelden, die einmal täglich die Welt retten. Vielmehr stellt sich heraus, dass ihre Fähigkeiten viel mehr Schattenseiten haben als Anfangs gedacht. So erleiden sie bei der Anwendung physischen und psychischen Schmerz und nicht zuletzt kostet sie jede Anwendung wertvolle Lebenszeit.

Auch scheut sich Miro nicht, Gewalt darzustellen: Er zögert nicht damit, diverse Verletzungen zu schildern, Figuren zu verkrüppeln und erstaunlich viele (vermeintlich) wichtige Figuren sterben zu lassen.

Starkes Figurenensemble

Gerade dieser leichtfertige Umgang mit dem Leben seiner Protagonisten mutet dabei seltsam an, zählt doch ein ausdifferenziertes und umfangreiches Figurenensemble zu den Stärken dieses Romans. Der Autor widmet der Darstellung der Lebensgeschichte seiner Figuren viel Zeit und lässt diese Behandlung auch noch der (vermeintlich) Nebensächlichsten Figur zugutekommen. Das Ergebnis ist eine lebendige Welt mit Charakteren, die uns als Leser wirklich etwas bedeuten und mit denen wir bei ihren Abenteuern mitfiebern. So trauere ich bis heute um eine mir sympathische Figur, deren Tod ich nicht vorhersehen konnte.

Eindeutige Hauptperson kristallisieren sich dabei nicht heraus, vielmehr bedient sich Miro zahlreicher Figuren, um seine Geschichte zu erzählen. Annähernd diese Position nehmen wohl der Sechszehnjährige Charlie Ovid und die Detektivin Alice Quicke ein, die für das Cairndale Institut Talente auf der ganzen Welt einsammelt. Beide sind in ihrem jeweiligen Bereich noch genauso unerfahren wie wir Leser, sodass wir uns mit ihnen am ehesten identifizieren und gemeinsam wachsen können.

Hervorzuheben sind auch die starken Frauenfiguren im Allgemeinen wie Alice Quicke, Davenshaw oder Harrington, die in einem starken Kontrast zum damaligen Frauenbild stehen und mehr als einmal damit in Konflikt geraten.

Das ausdifferenzierte Figurenbild gilt gleichermaßen für die gegnerische Seite. Den Begriff böse möchte ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden, da uns Miro auch hier Einblicke in ihre Gedanken- und Lebensgeschichte bietet und wir als Leser uns am Ende fragen müssen, ob wir wirklich auf der richtigen Seite stehen…

Was bleibt?

Ganz gewöhnliche Monster ist ein ausgesprochen starkes Debüt im phantastischen Bereich. Zwar erfindet Miro das Genre nicht neu und setzt auf viele altbekannte Elemente. Dafür kann er mit einem ausdifferenzierten und sympathischen Figurenensemble, wohldosierten Action-Szenen und einer atmosphärisch dichten Welt begeistern.

Kennzeichnend ist weiterhin das gemächliche Erzähltempo, dass dem Roman beinahe schon die entschleunigte Wirkung einer Holmes Geschichte verleiht. Wer also auf der Suche nach einem schnellen Roman für zwischendurch ist, wird von diesem Roman enttäuscht werden. Wer dem Roman hingegen die nötige Zeit geben kann und möchte, wird mit einem der spannendsten Romane des Jahres belohnt. Lesenswert!

Auftakt einer Reihe

Ganz gewöhnliche Monster stellt den Auftakt der Dunkle Talente Trilogie dar, die 2024 mit Bringer of Dust im englischsprachigen Raum fortgesetzt wird. Bleibt zu hoffen, dass der Roman bis dahin auch hierzulande genug Leser finden wird, um die Fortsetzung zu ermöglichen.

Polarisierendes Cover

Meine Ausgabe stammt aus dem Heyne Verlag und hat mich im Großen und Ganzen positiv überrascht. Das Cover ist sicherlich polarisierend und hat nur wenige abstrakte Bezüge zum Inhalt. Jedenfalls kann es die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen und erfüllt damit seine bestimmungsgemäße Funktion.

Im Inneren hat man sich für ein Buch dieser Preisklasse recht viel Mühe gegeben, so werden Sinneinheiten von stimmungsvollen Übergangsseiten eingeleitet und der Initialbuchstabe jedes Kapitels hat eine kleine Verzierung erhalten. Auf ein Leseband müssen wir hingegen trotz des Umfangs des Buches leider verzichten.

Die Übersetzung stammt von Thomas Salter und hat mit den typischen Eigenheiten dieses Subgenre zu kämpfen. So hat Salter die unglückliche Aufgabe zu wählen, ob er bestimmte Begriffe wie die Bezeichnungen der Talente übersetzten oder den Originalbegriff beibehalten soll. Wer sich selbst einmal in die Lage versetzt, wird feststellen, dass man bei so einer Entscheidung niemals richtig liegen kann, darum erspare ich mir darüber ein Urteil.

Auch sonst scheint Salter eine gute Übersetzerarbeit abgeliefert zu haben, atmosphärisch störend fand ich nur an der einen oder anderen Stelle die Flüche der Protagonisten – hier hätte ich mir eine stärkere Loslösung vom Wortlaut zugunsten der Atmosphäre gewünscht.

Pro/Contra

Pro
  • spannende Handlung mit vielen überraschenden Wendungen
  • sympathische und ausdifferenzierte Figuren
  • vertraute Elemente erhalten frischen Wind
Contra
  • wirklich innovativ ist die Handlung nicht (muss sie aber auch nicht)
  • das langsame Erzähltempo könnte einige Leser abschrecken

Fazit


Ganz gewöhnliche Monster von J.M. Miro erfindet das Genre nicht neu, kann aber durch starke Charaktere, ein atmosphärisch dichtes Setting und interessante Fragestellungen begeistern. Definitiv lesenswert!

autor: J.M. Miro

Titel: Ganz gewöhnliche Monster

Seiten: 800

Erscheinungsdatum: 2022

Verlag: Heyne Verlag

ISBN: 9783453322325

übersetzer: Thomas Salter

illustrator: –

Reihe: Dunkle Talente (1)

Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt

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