Eine deutsche Ausgabe des Buches "Tschewengur" von Andrei Platonow liegt auf einer Holzfläche.

Tschewengur

von Andrej Platonow


22.07.2025

  • Klassiker

In seinem Roman Tschewengur wirft Andrej Platonow einen kritischen Blick auf die Jahre nach der Oktoberrevolution und ihre Auswirkungen auf das Leben der einfachen russischen Landbevölkerung.

Wo der Kommunismus wartet

Russland nach der Oktoberrevolution: Alexander (Sascha) Dwanow, Sohn eines Fischers mit Todessehnsucht, begibt sich auf eine Wanderung durch das postrevolutionäre Russland. Begleitet wird er von Stepan Kopjonkin, der gemeinsam mit seinem Pferd „Proletarische Kraft“ auf der Suche nach dem Grab von Rosa Luxemburg ist.

Auf ihrer Reise hören sie von der Provinzstadt Tschewengur, in der der Kommunismus angeblich bereits verwirklicht wurde. Doch die Stadt erweist sich als Sammelbecken verschiedenster Gestalten und Strömungen …

Vom Anhänger zum Kritiker

Man kann den Roman nicht verstehen, ohne den Autor zu kennen: Andrej Platonow kam 1899 als Sohn einfacher russischer Arbeiter zur Welt. Zunächst galt er als glühender Anhänger des Kommunismus. Kein Wunder, ermöglichte ihm der Systemwechsel doch den Aufstieg zum Bewässerungsingenieur. Doch es dauerte nicht lange, bis seine Kritik an der konkreten Umsetzung immer lauter wurde. Nach und nach entfernte er sich von der Partei und erregte Stalins Missgunst.

Tschewengur schrieb er zwischen 1927 und 1929, doch Maxim Gorki untersagte die Veröffentlichung: Seine Helden seien keine Revolutionäre, sondern „komische Käuze und Halbverrückte“. Erst 1972 erschien der Roman in Paris. 1988 folgte die erste russische und 1990 die erste deutsche Ausgabe im Verlag Volk und Welt.

Schwer greifbarer Roman

Es gibt Bücher, bei denen mir das Verfassen einer Rezension sehr schwerfällt. Weil die Lektüre noch Monate später nachhallt. Weil der Inhalt schwer greifbar ist. Oder weil die Sprache nur schwer in Worte zu fassen ist. Tschewengur ist ein solcher Roman.

Zeitlich spannt Platonow einen weiten Bogen: Wir beginnen mit dem Zarenreich, doch der Hauptteil der Handlung spielt in den ersten Jahren nach der Russischen Revolution: in den Anfangstagen der kommunistischen Gesellschaft.

Platonow versucht dabei, die Vielfalt, die Widersprüchlichkeiten und die unterschiedlichen Facetten des Kommunismus darzustellen: Er erzählt von den verschiedenen ideologischen Strömungen und wie sie von Korruption, Bürokratie, Naivität und Verschlagenheit beherrscht werden.

Die Perspektive der Provinz

Dazu nutzt unser Autor harte Kontraste: Seine Figuren sind einfache Arbeiter, Bauern und Bettler. Sie wurden aus ihrem bisherigen Leben geworfen und in ein kommunistisches System gepresst. Ohne dass jemand weiß, worum es dabei so genau geht.

Platonow zeigt auf, was passiert, wenn man die verschiedenen theoretischen Konstruktionen tatsächlich konsequent umsetzt. Er geht zunächst von abstrakten Ideen aus. Die praktischen Auswirkungen zeigt er jedoch am konkreten Einzelfall anhand der einfachen Landbevölkerung.

Keine Einordnung möglich

Infolgedessen kommt es zu einer Vielzahl von bizarren und beinahe schon surreal anmutenden Szenen, die nur schwer greifbar sind. Man könnte Begriffe wie Utopie oder Dystopie, Komödie oder Tragödie und Satire oder Tatsachenschilderung verwenden und läge niemals ganz falsch oder ganz richtig.

Wir haben es hier mit einem Episodenroman zu tun, dessen Figuren und Episoden mal mehr und mal weniger stark miteinander verwoben sind. Teilweise spielen Figuren ununterbrochen eine wichtige Rolle. Einige haben nach wichtigen Auftritten nur noch eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Den eigentlichen Erzähler nimmt man dabei kaum wahr, da der Fokus eng auf den jeweiligen Figuren liegt.

Herausfordernde Sprache

Sprachlich ist der Roman anregend und herausfordernd zugleich: Platonow arbeitet mit der Alltagssprache der einfachen Leute. Diese einfache Sprache mischt er mit den neuen Begriffen des Sowjetzeitalters – Begriffen, die niemand wirklich zu verstehen scheint. Das Ergebnis ist eine interessante Mischung, bei der man über beinahe jeden Satz nachdenken muss – definitiv keine Urlaubslektüre.

Auch hier gelingt es ihm, mittels der unterschiedlichen Sprachen, die Absurdität und Leere kommunistischer Kampfbegriffe deutlich zu machen. Dazu reicht es, einen hochakademischen Begriff in ein alltägliches Umfeld zu setzen. Schnell wird klar, wie austauschbar und beliebig viele doch sind. Ferner weist der Roman eine Reihe von weiteren Bedeutungsebenen auf, die aus Gründen der Lesbarkeit der geneigten Leserin selbst überlassen werden.

Was bleibt?

Tschewengur von Andrej Platonow stellt definitiv keine leichte Kost dar. Sprachlich und inhaltlich von mehreren Bedeutungsebenen durchzogen, erfordert die Lektüre die volle Aufmerksamkeit der geneigten Leserin. Die mosaikhafte Struktur des Romans kommt erschwerend hinzu. Wer diese Berge dennoch erklimmt, wird mit einer geistig anregenden Lektüre belohnt, die noch lange nachhallen wird.

Schöner Leineneinband

Äußerlich handelt es sich um ein ansehnliches und schönes Buch aus dem Suhrkamp Verlag. Wir dürfen uns über einen bedruckten Leineneinband mitsamt farblich abgestimmtem Leseband freuen. Das Papier ist recht dick und macht einen hochwertigen Eindruck. Leider müssen wir mit einer Klebebindung vorliebnehmen.

Für Begeisterung sorgt auch der üppige Anhang: Uns erwartet ein kurzer, aber lohnenswerter Anmerkungsapparat und eine Chronik mit den wichtigsten Daten zu Platonows Leben. Platonow-Biograph Hans Günther steuerte ein kurzes und informatives Nachwort bei. Zudem findet sich hier auch ein „Gespräch“ zwischen Dzevad Karahasan und Ingo Schulze. Die Übersetzung fertigte Renate Reschke an, die dazu ihre Arbeit aus dem Jahre 1990 überarbeitete.

Pro/Contra

Pro
  • Sprachlich und inhaltlich herausfordernd
  • Zeitlose Themen
  • Geistig anregende Lektüre
Contra
  • Sprachlich und inhaltlich herausfordernd
  • Episodenhafter Aufbau erschwert den Zugang

Fazit


Tschewengur von Andrej Platonow stellt eine sprachlich und inhaltlich herausfordernde Lektüre dar. Wer die Herausforderung nicht scheut, wird mit einer anregenden Lektüre belohnt.

autor: Andrej Platonow

Titel: Tschewengur

Seiten: 579

Erscheinungsdatum: 1927 – 1929

Verlag: Suhrkamp Verlag

ISBN: 9783518428030

Übersetzerin: Renate Reschke

illustratoren: –

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