
Liebe ist der Plan
von James Tiptree Jr.
30.06.2023
- Phantastik
- ·
- Science-Fiction
Liebe ist der Plan widmet sich als zweiter Band der Werkausgabe von James Tiptree Jr. ihrem erzählerischen (Früh-)Werk zwischen den Jahren 1970 und 1974. Wie verläuft dieser wichtige Entwicklungsschritt für sie?
Vielfältige Auswahl an Kurzgeschichten
Insgesamt umfasst dieser Band achtzehn Kurzgeschichten, deren individuelle Vorstellung den Umfang dieser Rezension sprengen würde. Daher möchte ich mich im Folgenden auf die stärksten Geschichten konzentrieren.
Den Startpunkt dieser Sammlung stellt die Kurzgeschichte Das eingeschaltete Mädchen (The Girl Who Was Plugged In) dar, die 1974 mit dem renommierten Hugo Award ausgezeichnet wurde. Ausgangspunkt ist ein Gesetz, das Werbung generell verbietet. Was mächtige Firmen nicht davon abhält, ihre Produkte auf anderen Wegen unter das Volk zu bringen: Sie erschaffen künstliche und fernsteuerbare Menschen, die sie unter Aufwendung beachtlicher Summen zu Prominenten aufbauen. Um so indirekt Werbung betreiben zu können. Die junge Burke erhält nach einem gescheiterten Suizidversuch das Angebot, einen solchen Menschen (die junge Delphi) zu steuern. Der Haken? Sie muss sich in einem Bunker verschanzen – schließlich darf niemand hinter das Geheimnis der großen Firmen gelangen. Doch während Burke immer tiefer in ihrer Rolle versinkt, entwickelt Delphi ein ungeahntes Eigenleben.
Die titelgebende Geschichte Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod (Love Is the Plan and the Plan Is Death) versetzt uns auf einen fremden Planeten. Wir folgen in dieser – 1974 mit dem Nebula Award ausgezeichneten – Geschichte aus der Ich-Perspektive Moggadeet. Einem männlichen Abkömmling einer nicht näher spezifizierten Art. Seine Rasse folgt einem Trieb („Plan“), der mit unglaublichen Grausamkeiten verbunden ist. Moggadeet versucht dagegen anzukämpfen, doch ist er stark genug, um seine innere Programmierung zu überwinden?
In Frauen, die man übersieht (Women Men Don’t See) führt uns Tiptree zurück auf die Erde. Auf einem Flug nach Yucatán stürzt eine Reisegruppe mitten im Nirgendwo ab und bringt das Weltbild unseres männlichen älteren Protagonisten ins Wanken: Die zwei Frauen der Gruppe, von ihm anfänglich noch vornehm ignoriert, verhalten sich nämlich ganz und gar nicht so, wie es sich für Frauen gehört: kein Zittern, keine Panik, keine Suche nach einer starken Schulter. Stattdessen übernehmen sie die Initiative und sorgen quasi im Alleingang für ihr Überleben. Eine Ungeheuerlichkeit, die ihn misstrauisch macht …
Den Abschluss bildet mit Angel Fix (im Original unter ihrem weiteren Pseudonym Raccoona Sheldon erschienen) eine bitterböse Satire. Außerirdische suchen heimlich die Erde auf und bemühen sich, den wirklich guten Menschen ihre Unterstützung zukommen zu lassen. Doch stecken gute Absichten hinter ihren Bemühungen?
Faszinierende Schriftstellerin
Ich habe in der Vergangenheit aus meiner Verehrung für die Werke von James Tiptree Jr./Alice B. Sheldon keinen Hehl gemacht. Ihr faszinierendes Leben habe ich in vorangegangenen Rezensionen angedeutet, daher an dieser Stelle nur ein Schnelldurchlauf:
Alice B. Sheldon wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, illustrierte bereits als kleines Mädchen die erfolgreichen Kinderbücher ihrer Mutter und unternahm in frühen Jahren ausgedehnte Reisen um die Welt. Nachdem sie ihre vielversprechende Karriere als Künstlerin aufgegeben und eine überstürzte erste Ehe hinter sich gebracht hatte, trat sie im Zweiten Weltkrieg als eine der ersten Frauen der Air Force bei, baute die CIA mit auf und promovierte anschließend noch in der Psychologie.
Erst in ihren 50ern wandte sie sich der Literatur zu und veröffentlichte unter einem männlichen Pseudonym Science-Fiction-Kurzgeschichten, mit denen sie innerhalb kürzester Zeit für Aufsehen sorgte. Über zehn Jahre hinweg hielt sie die Literaturszene zum Narren, bis sie ihre wahre Identität enthüllte. Doch dies ist eine andere Geschichte.
Im zweiten Band ihrer Werkausgabe aus dem Septime Verlag sind Geschichten aus den Jahren 1970–1974 versammelt. Und damit Geschichten vor der Enthüllung ihrer Identität. Man könnte guten Gewissens behaupten, dass sie sich hier auf dem Höhepunkt ihres Schaffens befand.
Es ist ein Rätsel
Es ist für mich ein Rätsel, warum das Werk von James Tiptree Jr./Alice B. Sheldon in Deutschland immer noch nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient hätte. Mir fallen zwei Erklärungen ein: Zum einen handelt es sich zum größten Teil um Kurzgeschichten, die im deutschsprachigen Raum generell einen schweren Stand haben. Zudem lassen sich ihre Geschichten der Science-Fiction zuordnen.
Einem Genre, das nur selten und wenn, dann nur mit blumigen Umschreibungen in den größeren Medien besprochen wird. Eine Ausnahme bildet der umtriebige Denis Scheck. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ausgaben keine klassischen Nachworte aufweisen und damit den Feuilleton-Schreiberlingen jegliche Arbeitsgrundlage fehlt. Schließlich kann man so kein Nachwort umschreiben und als eigenständiges Werk ausgeben.
Zwischen Kafka und Hemingway
Vergleiche mit anderen Schriftstellern werden in der Regel weder dem einen noch dem anderen Part wirklich gerecht. Haben aber bis zu einem gewissen Grad ihre Berechtigung. Robert Silverberg verglich Tiptree mit Hemingway, Denis Scheck bezeichnete sie als Kafka des 22. Jahrhunderts.
Letzterer Vergleich ist vor allem inhaltlichen Übereinstimmungen geschuldet: Ähnlich wie bei Kafka sind auch Tiptrees Figuren zumeist in einer (aussichtslosen) Situation gefangen, auch wenn sie es selbst nicht wissen. Die Bedrohungslage mag klarer erkennbar sein und Tiptree hat einen deutlich ausgeprägteren Humor. Aber dennoch sind die Parallelen nicht von der Hand zu weisen. Auch der Hemingway-Vergleich ist insoweit berechtigt, als dass sich beide durch eine klare Prosa auszeichnen. Die sich durch lakonische und kurze Hauptsätze äußert.
Die perfekte Schriftstellerin
Überhaupt gibt es stilistisch nur wenig, was Tiptree nicht kann und zeigt. Sie legt sich weder auf Erzählperspektive noch auf einen bestimmten Stil fest. Sondern variiert jedes Element, soweit es die Geschichte erfordert. Geschichten mit großartigen Dialogen folgen Geschichten, in denen kein Wort gesprochen wird. Mal haben wir es mit einer temporeichen Space-Opera zu tun. Ein anderes Mal folgen wir dem Lebenszyklus eines Insekts mit allerlei experimentellen Erzählstrukturen.
Daneben zeichnen sich ihre Geschichten durch ein gewisses Maß an trockenem Humor, Spannung und mehr oder weniger stark hervortretende Science-Fiction-Elemente aus. Themen wie Sexualität, Geschlechter und Rollenbilder und der damit einhergehende Blick auf Konventionen und Traditionen spielen eine gewichtige Rolle.
Was bleibt?
Bei Liebe ist der Plan handelt es sich um eine herausragende Sammlung von Kurzgeschichten von James Tiptree Jr./Alice B. Sheldon. Sie erweist sich einmal mehr als Meisterin ihrer Zunft und beherrscht zielsicher sämtliche stilistische Aspekte des Schreiberhandwerks. Inhaltlich erwartet uns ein bunter Strauß an Geschichten, die allesamt ein düsterer Unterton und gleichzeitig intelligenter Humor verbindet.
Und Science-Fiction kann Tiptree im Übrigen auch! Wer sich nicht von diesem Label abschrecken lässt und Freude an Kurzgeschichten hat, wird mit Tiptree viele vergnügliche Lesestunden erleben. Aber Vorsicht, Tiptree kann süchtig machen!
Zweiter Band der Werkausgabe
Handwerklich handelt es sich bei diesem Band aus dem Septime-Verlag um ein solides Hardcover. Der Pappeinband ist stabil, das Papier dick und der Schutzumschlag scheint werthaltiger zu sein als es bei anderen Verlagen der Fall ist. Auch wenn wir mit einer Klebebindung vorliebnehmen müssen, dürfen wir uns immerhin über ein Leseband freuen. Ein Extralob hat die minimalistische Schutzumschlaggestaltung verdient.
Im Anhang finden sich noch detaillierte Informationen zu den einzelnen Geschichten. Und als kleines Highlight das legendäre Nachwort der Herausgeber-Legende Robert Silverberg aus dem Jahre 1974. Einige Jahre vor Tiptrees Enthüllung versuchte er seine These, Tiptree sei ein Mann, mit einigen gewagten Argumenten zu untermauern. Diese gingen nicht über einen wie auch immer gearteten maskulinen Schreibstil hinaus und sind denkbar schlecht gealtert. Der heutige Leser kann darüber nur schmunzeln, aber zu dieser Zeit war dies eine gängige These. Immerhin besaß Silverberg die Größe, sich nach Tiptrees Enthüllung öffentlich zu entschuldigen. Ohne allerdings von seiner Fixierung auf einen maskulinen Schreibstil abzurücken.
Werke von James Tiptree Jr.
Bibliographie
Pro/Contra
Pro
- stilistisch überragend
- inhaltlich vielfältig
Contra
- –
Fazit
Liebe ist der Plan von James Tiptree Jr. überzeugt sowohl stilistisch als auch inhaltlich. Wer anspruchsvollen Kurzgeschichten und Science-Fiction etwas abgewinnen kann, wird mit ihren Werken seine Freude haben!
autor: James Tiptree Jr.
Titel: Liebe ist der Plan
Seiten: 528
Erscheinungsdatum: 1969 – 1972
Verlag: Septime Verlag
ISBN: 9783902711373
Übersetzer: s.o.
illustratoren: –
Reihe: James Tiptree Jr. Werkausgabe (2)










