Buch Frontalansicht Hill Stummes Echo

Stummes Echo

von Susan Hill


25.02.2022

  • Gegenwartsliteratur

Susan Hill dürfte den meisten Menschen als Autorin der Kurzgeschichte Die Frau in Schwarz bekannt sein. 2008 erschien ihre Novelle Stummes Echo (The Beacon) und behandelt Themen wie Familie und die Glaubwürdigkeit von Erinnerungen.

Eine gespaltene Familie

Die Geschwister May, Colin, Bernice und Frank wachsen abgeschnitten von der Außenwelt auf einem kleinen Hof in England auf, dem Beacon. Ihre Kindheit verläuft ruhig und weitestgehend harmonisch – so scheint es zumindest. Während Colin und Bernice in der Heimat verwurzelt bleiben, zieht es May und Frank nach London. May ist begabt und erhält tatsächlich ein Stipendium. Doch die Anonymität und der Lärm der Großstadt schrecken sie ab und nach einem Jahr flüchtet sie zurück aufs Land, wo sie fortan ein einsames Leben führt und sich nur noch um ihre Eltern kümmert.

Frank hingegen flüchtet so schnell es geht nach London, wird erfolgreicher Journalist und verfasst ein erfolgreiches Buch über seine Kindheit, die von Gewalt und Hass geprägt zu sein scheint. Seine Geschwister sind schockiert, decken sich doch ihre eigenen Erinnerungen nicht im Geringsten mit den Beschreibungen ihres Bruders. Das Buches zerschneidet endgültig das Band zwischen ihnen, doch im Laufe der Jahre beginnen alle ihre Erinnerungen zu hinterfragen. Als Jahrzehnte später ihre Mutter stirbt, treffen die Geschwister wieder aufeinander…

Von der Autorin von Die Frau in Schwarz

Susan Hill ist in Deutschland kein bekannter Name, doch viele dürften die erfolgreiche Verfilmung ihrer Kurzgeschichte Die Frau in Schwarz mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle kennen. Neben zahlreichen Horrorgeschichten verfasste sie auch eine erfolgreiche Krimireihe, Kindergeschichten und viele andere Werke.

Eine Familiengeschichte aus der Perspektive der Kinder

Die Autorin erzählt diese Familiengeschichte aus der Perspektive der vier Geschwister. Bernice und Colin bekommen in der Novelle nur wenig Raum, wohl auch weil sie die bodenständigsten Charaktere der Erzählung sind und es wenig Interessantes über sie zu berichten gibt. May und Frank sind die wesentlich spannenderen Charaktere und bekommen dementsprechend viel Raum.

May ist eine schüchterne und wahrscheinlich auch introvertierte Frau, die ihr Potential nie ausschöpfen konnte und es zeit ihres Lebens nicht geschafft hat, sich von ihren Eltern zu lösen. Ein Stipendium ermöglicht es ihr, ein Jahr in London zu studieren, doch sie vermisst die Ruhe und Geborgenheit ihrer Heimat. Als sie schließlich nach Hause zurückkehrt, bestärken ihre Eltern sie in ihrer Unsicherheit und sorgen so dafür, dass sie alle Ambitionen aufgibt, sich zusehends isoliert und nur noch um den Hof und ihre Eltern kümmert.

Frank ist das schwarze Schaf der Familie. Er erkannte bereits früh, dass seine Kindheit zwar vordergründig ruhig und harmonisch verlief, in der Umklammerung der Eltern aber auch eine Form der Gewalt steckt. In so einem Umfeld wäre es ihm nicht möglich gewesen, eigene Wege zu gehen und so flüchtet er bereits in jungen Jahren nach London und wird dort erfolgreicher Journalist. Seine eigene Wahrnehmung seiner Kindheit verarbeitet er ohne Rücksicht auf seine Geschwister in einem Buch, dass zum Bestseller wird. Auch wenn es unwahrscheinlich und in der Geschichte auch nicht klar ersichtlich ist, ob ihm in seiner Kindheit wirklich Gewalt angetan wurde, so ist zumindest dieser emotionale Terror einigermaßen sicher.

Können wir uns auf unsere Erinnerungen verlassen?

Die Novelle Stummes Echo ist sicherlich keine innovative Geschichte, aber welche Geschichte kann das schon von sich behaupten. Die Themen und Motive sind universell und handeln von Familie, Geschwistern und das Herauslösen oder auch Klammern in diesen Verbindungen. Ein weiteres wichtiges Thema sind Erinnerungen. Entsprechen unsere Erinnerungen tatsächlich der Realität, sind die Dinge so geschehen, wie wir denken? Der Leser kann sich mit diesen Themen identifizieren und auch seine eigenen Gedanken dazu einbringen. Jeder kennt sicherlich das Phänomen, das man die gleichen Dinge im Laufe der Jahre anders wahrnimmt und unterschiedlich bewertet und dies wird von Susan Hill glaubhaft dargestellt.

Die berühmte Sogwirkung

Stilistisch erweist sich Susan Hill als eine hervorragende Autorin und schafft es, die grundlegenden Themen in ihrem Stil widerzuspiegeln. Immer wieder wechselt die Handlung von Vergangenheit zu Gegenwart, jede Seite birgt neue Erkenntnisse und neue Fragen. Im Hintergrund baut sie den Konflikt langsam auf und steigert die Spannung mit jeder Seite.

Die Handlung spielt sich größtenteils in Erinnerungen ab, dabei verwendet sie einen langen und mit vielen Nebensätzen gespickten Satzbau. Die wenigen Gegenwartspassagen bestehen hauptsächlich aus kurzen Dialogen, in denen nur wenige Worte verwendet werden. Diese sind allerdings ausreichend, um das Verhältnis der Charaktere zueinander zu beschreiben. Als Leser ist man schnell gefangen in der Gedankenwelt der Protagonisten und weiß am Ende auch nicht mehr, welche Erinnerungen nun wahr sind und welche nicht. Gerade durch diese Erzählweise entwickelt die Geschichte die berühmte Sogwirkung und lässt den Leser den Band bis zum Ende kaum aus den Händen nehmen.

Mehr Seiten hätten der Geschichte gut getan

Trotz des interessanten Themas und des wirklich schönen Stils hat mich die Geschichte nicht völlig überzeugen können. Das liegt an folgenden Stolpersteinen: Zum einen fühlen sich die Charaktere und ihr Verhältnis zueinander nicht rund an. Gerade die Beziehung der Geschwister May, Colin und Bernice wird mehrere Male widersprüchlich beschrieben. Mal haben sie sich voneinander entfernt, einige Seiten später stehen sie sich plötzlich wieder nahe. Auch ist Franks Entwicklung nicht nachvollziehbar dargestellt, gerade in seiner Jugend hatte er nur nichtssagende Auftritte, um dann im Verlauf der Handlung die Rolle des Bösewichts anzunehmen.

Zum anderen ist auch die Rolle der Eltern recht schwammig, obwohl sich alles in dieser Geschichte um das Verhältnis der Familie zueinander dreht, spielen sie nach den ersten Seiten keine große Rolle mehr. Natürlich könnte man anführen, dass diese Aspekte bewusst diffus dargestellt werden, schließlich geht es ihr auch um die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Dagegen spricht, dass sie gerade bei May sehr gründlich gearbeitet hat und ihre Geschichte nachvollziehbar gestaltet hat. Ich denke, der Geschichte hätten einige mehr Seiten gutgetan, um wirklich alle Charaktere ausreichend zu beleuchten.

Das macht aus dieser Geschichte keine schlechte Geschichte, ist aber sehr schade, da hier durchaus das Potential für ein Meisterwerk da gewesen wäre. So bleibt diese Novelle nur eine gute Novelle, die durchaus Vergnügen bietet und zum Nachdenken anregt, aber das Potential zu so viel mehr gehabt hätte. Eine gelungenere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bietet etwa Richard Russos Empire Falls (Diese gottverdammten Träume).

Viel Buch für wenig Geld

Stummes Echo erschien 2019 erstmals im Gatsby Verlag, einem Imprint des Kampa Verlages. Das Ziel dieses Verlages ist es, wieder mehr hochwertig produzierte Bücher in den Buchhandel zu bringen und das scheint mir in diesem Fall gelungen zu sein. Der Bucheinband besteht aus bedruckten Leinen, das Format ist handlich, aber nicht zu klein und bei der Farb- und Motivwahl scheint der Verlag das richtige Gespür zu haben. Bei diesem Preis darf man natürlich keine Fadenheftung erwarten und auch am Leseband wurde gespart, doch das dürfte angesichts der Kürze des Romans überflüssig sein. Alles in allem bekommt man ein sehr schönes Buch zu einem fairen Preis.

Pro/Contra

Pro
  • handwerklich solide Geschichte
  • entwickelt die berühmte Sogwirkung
Contra
  • die Kürze der Geschichte lässt die Charaktere nicht zur Geltung kommen

Fazit


Stummes Echo ist eine unterhaltsame Novelle, die für zwei Stunden gute Unterhaltung bietet. Einige Unstimmigkeiten bei den Charakteren verhindern leider den ganz großen Wurf.

autorin: Susan Hill

Titel: Stummes Echo

Seiten: 165

Erscheinungsdatum: 2008

Verlag: Gatsby Verlag

ISBN: 9783311210078

übersetzerin: Andrea Stumpf

illustrator: –

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