Die Mauern der Welt hoch
von James Tiptree Jr.
05.11.2021
- Phantastik
- ·
- Science-Fiction
James Tiptree Jr. ist vor allem als Autorin von Kurzgeschichten bekannt, doch sie schrieb auch zwei Romane, von denen der erste, Die Mauern der Welt hoch, 1978 erschien.
Ein etwas anderer Erstkontakt
Auf der Erde überwacht der depressive Doktor Daniel Dan (das musste einfach sein…) eine Studie zur Erforschung telepathischer Fähigkeiten und ist dabei mehr mit sich als mit seinen Patienten beschäftigt. Zeitgleich lebt auf dem fernen Gasplaneten Tyree ein telepathisch begabtes, rochenartiges Volk, dass sich plötzlich einer übermächtigen Bedrohung gegenüber sieht. Eine außergewöhnlich mächtige Lebensform mit der Macht ganze Planeten zu zerstören bewegt sich auf ihre Heimatwelt zu und schon bald scheint der Kontakt zur Menschheit ihre einzige Hoffnung auf Rettung zu sein.
Der Leser, der bereits einige Kurzgeschichten von James Tiptree Jr. gelesen hat, dürfte wissen, was ihn in diesem Roman erwartet, nämlich das Leben in all seinen Facetten. Die Mauern der Welt hoch beginnt zunächst mit drei Handlungssträngen, die sich nach und nach vermischen, bis die Handlung in eine Art Gedankenwelt wechselt und nur noch dazu dient, elementare Fragen wie den Sinn des Lebens, das Streben nach Glück und die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft zu diskutieren.
Das Hinterfragen von Sitten und Konventionen
Es ist faszinierend, mit welcher Kreativität Tiptree andere Gesellschaftsordnungen und Lebensformen entwickeln kann, die sich in fast allen Aspekten von den uns Bekanntem unterscheiden. Dies ist eine Fähigkeit, die ich allenfalls von Jack Vance kenne. Während Vance allerdings die Kunst um der Kunst willen ausübt, dienen Tiptrees Geschichten dazu, uns den Spiegel vorzuhalten und unsere Ansichten und Gebräuche zu hinterfragen.
Auf dem fernen Planeten Tyree sind die Rollen in der Kindererziehung anders verteilt, als bei uns. Dort brütet der Mann die Kinder aus und zieht sie auf, während die Frau mit der Arbeit und Nahrungssuche beschäftigt ist. Doch gerade deswegen haben Väter – das Wort Mutter gibt es dort nicht einmal – einen viel höheren sozialen Status, Frauen sind nur Zuarbeiter, die aufgrund ihrer geringeren Kraft und Größe eine so wichtige Aufgabe wie die Kindererziehung gar nicht wahrnehmen dürfen. Aber auch dort gibt es Proteste gegen dieses Leben, auch auf Tyree ist die Emanzipation der Frau ein wichtiges Thema.
Wie gewohnt sind die Charaktere höchst lebendig und sympathisch gezeichnet, gerade für die Außerirdischen auf dem Planeten Tyree entwickelt man schnell Sympathien und insbesondere die Passagen, in denen ihre Sicht auf die Menschen gezeigt wird, zählen zu den Höhepunkten des Romans. Aber auch die Menschen um Doktor Dan, Außenseiter im besten Sinne, bestechen durch ihre lebendige Zeichnung.
Trotz aller Qualitäten…
Dennoch muss man feststellen, dass ihr Roman nicht mit ihren Kurzgeschichten mithalten kann, trotz ihrer Stärken als Schriftstellerin wirkt ihre Botschaft in kürzerer Form einfach intensiver. Erzählerisch macht sie vieles richtig: Sie wechselt an den richtigen Stellen die Perspektive, zieht das Tempo an, wenn es notwendig wird, lässt sich aber gerade in den Kapiteln, die auf der Erde spielen, manchmal zu viel Zeit. Wenn eine Situation eintritt, die das menschliche Bewusstsein übertrifft, nutzt sie Großbuchstaben, versucht Worte für das Unbeschreibliche zu finden und nähert sich dem zumindest an.
Solides Ausgabe des Romans
Die Ausstattung unterscheidet sich in keiner Art und Weise von den anderen Bänden der Werkausgabe. Ein fester Pappeinband, dickes Papier, ein Leseband und die gefällige äußere Gestaltung des Schutzumschlages erfüllen die Grundbedürfnisse eines jeden Lesers, auch wenn der bibliophile Leser sich natürlich einen Leineneinband wünschen würde. Leider ist diesem Band keinerlei Zusatzmaterial beigefügt, nicht einmal ein kurzes Vor- oder Nachwort. Dies mindert natürlich nicht die Qualität des Textes, ist aber bedauerlich angesichts des Anspruches an eine Werksausgabe.
Werke von James Tiptree Jr.
Pro/Contra
Pro
- Tiptree entwirft faszinierende Szenarien
- Lebendige und sympathische Charaktere
- Sprachlich überragend
Contra
- In verdichteter Form in Gestalt von Kurzgeschichten kommen ihre Fähigkeiten besser zur Geltung
Fazit
Die Mauern der Welt hoch ist ein Werk, das nur so vor Einfallsreichtum und fortschrittlichem Denken strotzt, aber nicht ganz mit ihren Kurzgeschichten mithalten kann. Viele von Tiptrees Themen sind nach wie vor hochaktuell und bringen den Leser gleichzeitig zum Staunen und zum Nachdenken.
autorin: James Tiptree Jr.
Titel: Die Mauern der Welt hoch
Seiten: 499
Erscheinungsdatum: 1978
Verlag: Septime Verlag
ISBN: 9783902711465
übersetzerin: Bella Wohl
illustratorIn: –
Reihe: James Tiptree Jr. Werkausgabe (10)