Red Team Blues
von Cory Doctorow
08.03.2024
- Gegenwartsliteratur
- ·
- Science-Fiction
Mit Red Team Blues hat Cory Doctorow einen Finanzthriller verfasst, der gegen so ziemlich jede Regel des modernen Romans verstößt und sich beharrlich den Konventionen jeglicher Genres verweigert. Was den Roman dennoch so unterhaltsam macht, erfahrt ihr in dieser Rezension.
Das rote Team greift an, das blaue Team verteidigt …
Martin Hench gehört mit seinen 67 Jahren mittlerweile zu den Veteranen der Cybersecurity und dennoch sind seine Dienste gefragter denn je. Immer wenn es darum geht, hochsensible und überaus wertvolle Daten und Gelder zu beschaffen, ist er der richtige Mann. Spielerisch bewegt er sich dabei auf dem digitalen Schlachtfeld zwischen den Reihen derjenigen, die ihre Geldströme im Cyberspace verstecken möchten, und denjenigen, die dies verhindern möchten.
Nun steht er vor seinem letzten Auftrag: Für einen bekannten Tech-Milliardär soll er einen Zugangsschlüssel wiederbeschaffen, der die Kontrolle über die erfolgreichste Kryptowährung der Welt ermöglicht und der in den falschen Händen einen gewaltigen Finanzcrash auslösen könnte. Doch auf einmal wendet sich das Blatt und Hench selbst wird zum Gejagten. Und dieses Mal steht sein Leben auf dem Spiel …
Ein Autor am Puls der Zeit …
Cory Doctorow gehört zu den Autoren, deren Aufstieg ich in den letzten Jahren zwar durchaus wahrgenommen habe, die ich aber dennoch geflissentlich ignoriert habe. Ein großer Fehler, den ich in Zukunft nicht wiederholen werde – wie ich bereits jetzt vorwegnehmen darf. 1971 in Toronto geboren, muss er eine interessante Kindheit erlebt haben. Er machte nie einen Schulabschluss, besuchte – ebenfalls jedenfalls auf dem Papier erfolglos – vier Universitäten und machte stattdessen als Blogger-Pionier, Internetaktivist und Buchautor von sich reden.
Prägende Aspekte seines Schaffens sind dabei digitale Rechte, die Auswirkungen des Tech-Booms auf unsere Gesellschaft und generell jede technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Zwischenzeitlich lebte er in London, verlegte aber schon früh seinen Lebensmittelpunkt nach Los Angeles, wo er unter anderem eine Gastprofessur an der renommierten University of Southern California innehat.
Ungewöhnlicher Ausgangspunkt
Alleine schon die Ausgangslage ist mehr als nur ungewöhnlich: Unsere Hauptfigur ist ein beinahe siebzig Jahre alter forensischer Buchhalter, der mithilfe seines Laptops die Finanzströme der Welt durchschaut, spielerisch mit Kryptowährungen und Co. umgeht, dabei Geldwäsche und andere kriminelle Aktivitäten aufdeckt und sich mit faulen Behörden, gierigen Tech-Start-ups und gnadenlosen Drogenbanden anlegt, während er wahlweise Whisky oder Hanf-Gummibärchen zu sich nimmt – Was kann da schon schief gehen?
Und tatsächlich scheint es auf den ersten Blick viele Punkte zu geben, die wir als Leser kritisieren könnten: So ist das Ausgangsszenario – abgesehen vom Krypto-Rahmen – nicht sonderlich innovativ: ein alternder Held, der einen allerletzten Job erledigen möchte, bevor er sich endgültig zur Ruhe setzt und dabei in große Schwierigkeiten gerät – das haben wir so oder so ähnlich schon öfters gehört.
Unkonventionelle Strukturen
Darüber hinaus scheint „Red Team Blues“ nicht dem üblichen Aufbau eines Romans zu folgen: So ist der eigentliche und größte Spannungsbogen nach gut der Hälfte des (viel zu kurzen) Romans abgeschlossen und die entscheidenden Fragen sind zu diesem Zeitpunkt bereits geklärt.
Hinzu kommt ein recht ungewöhnliches Verständnis des Autors für Timing und Beschreibungen. Während die meisten Action-Szenen und eigentlich alle relevanten Entwicklungen sozusagen „Off-Screen“ vonstattengehen, kommen wir in den Genuss vieler – dafür aber nicht sonderlich ausführlicher – Beschreibungen von Essen, Alkohol und Sex. Auch hätte der Autor die letzten drei Kapitel weglassen können, ohne dass es uns aufgefallen wäre oder gefehlt hätte.
Die Arbeit unseres Helden besteht im Grunde genommen darin, an allen möglichen Orten vor dem Laptop zu sitzen, Datenbanken abzugleichen, Social-Media-Accounts zu stalken und seine Stromversorgung sicherzustellen. Dies erscheint auch auf den zweiten Blick nicht gerade berauschend und nur wenig erinnert an einen knallharten Action-Helden oder an einen verruchten Detektiv.
Irgendwo in einer nicht weit entfernten Zukunft
Und dennoch habe ich mich durchweg hervorragend unterhalten gefühlt. Doch woran liegt das? Vielleicht am interessanten Szenario, das Doctorow vor uns aufbaut. Wir erfahren zu keinem Zeitpunkt, zu welcher Zeit die Handlung des Romans angesiedelt ist. Technologisch gab es jedenfalls keine wesentlichen Sprünge nach vorne, gleichzeitig haben viele Figuren die Dotcom-Blase in leitenden Positionen erlebt. Der Roman könnte also gut und gerne in der Gegenwart spielen, könnte aber auch genauso gut einige Jahre in der Zukunft angesiedelt sein.
Die zwei Gesichter des Silicon Valley
Dass sich der Roman dennoch wie ein Science-Fiction-Roman anfühlt, hat in erster Linie damit zu tun, dass unsere Handlung weitestgehend im Silicon Valley in San Francisco angesiedelt ist. Wir bewegen uns also nicht in einer Zukunftsvision, sondern viel mehr in einer Parallelwelt. Als eine der bedeutendsten Keimzellen des technologischen Fortschritts zeigt die Region dabei ihre zwei bekannten Gesichter: Auf der einen Seite die glänzende Metropole, in der jede Woche neue Start-Ups entstehen und Abermilliarden Dollars umgesetzt werden, auf der anderen Seite in direkter Tuchfühlung bitterste Armut und der alltägliche Kampf ums Überleben.
So begegnen sich auf einer Straße Tech-Milliardäre, Glücksritter, Professoren, aber auch Einwanderer, die sich vor den Behörden versteckt halten müssen, zwielichtige Gangs und Bettler, die jeden Tag aufs Neue um einen Schlafplatz kämpfen müssen.
Die Untiefen der Finanzbranche
Diese Umgebung gibt auch die bestimmenden Motive des Romans vor. Doctorow zeigt uns dabei auf, wie neue und vermeintlich gerechtere Errungenschaften wie Krypto-Währungen von herkömmlichen Kriminellen und bekannten Institutionen pervertiert und missbraucht werden. Ich bin ganz sicher kein Experte auf dem Finanzmarkt und sicherlich auch nicht vernarrt in Kryptowährungen, aber die von ihm entworfenen Szenarien sind auch für mich extrem faszinierend und haben dazu geführt, dass ich mich tiefer in das Thema eingelesen habe.
Spezialwissen muss man übrigens nicht haben – auch ohne den entsprechenden Hintergrund kann man die Geschichten genießen, auch wenn es das Lesevergnügen steigert, wenn man beispielsweise weiß, was ein Ledger oder eine Blockchain ist.
Aber dabei bleibt Doctorow nicht: Genauso ausführlich schildert er die Nachteile der Technologie auf das Leben der Menschen, etwa wenn er uns das Leben als Bettler im Silicon Valley hautnah miterleben lässt oder viele andere negative Auswirkungen des technologischen Fortschritts beschreibt.
Unterhaltsamer Erzähler
Es schadet sicherlich auch nicht, dass unser Autor ein unterhaltsamer Erzähler ist. Trotz des oben angeschriebenen ungewöhnlichen Poltaufbaus herrscht in der ganzen – alleine aus der Perspektive von Martin Hench erzählten – Geschichte ein hohes Erzähltempo vor. Neben vielen Monologen hilft es, dass Doctorow durchaus dazu in der Lage ist, zeitliche Abläufe sprachlich zu verdichten, wenn er denn nur will.
Freunde gepflegter Action-Szenen könnten hingegen enttäuscht werden. Trotz des Geldwäsche-Rahmens und der Verstrickung diverser Behörden und krimineller Vereinigungen sehen wir meist nur die Ergebnisse der zu erwartenden Eskalationen.
Sympathisches Figurenensemble
Das ist insoweit konsequent, als dass unsere Hauptfigur Martin Hench nun einmal auf die siebzig zugeht und keinen Expendables-Verschnitt oder auch nur einen Detektiv der alten Schule darstellt. Auch sonst handelt es sich bei ihm eine ungewöhnliche Figur. Hench bewegt sich seit der Dotcom-Blase im Fahrwasser bekannter Tech-Größen und verdient sein Geld als eine Art forensischer Cyber-/Krypto-/Finanzbuchhalter. Seine Aufgabe ist es dabei, in den Wirren finanzieller, tatsächlicher und rechtlicher Konstruktionen Daten und Informationen auf nicht immer ganz legalen Wegen zu beschaffen.
Mehrmals wird dabei das Bild vom roten und blauen Team betont. Das rote Team stellt dabei die Partei dar, die von einer anderen Partei, dem blauen Team, etwas (Daten, Schlüssel etc.) haben möchte. Je nachdem, in welcher Situation man sich befindet, sind unterschiedliche Fähigkeiten gefordert. Während das blaue Team perfekt spielen muss und sich keine Fehler erlauben darf, um seine Aufgabe zu erfüllen, reicht es für das rote Team bereits aus, einen einzigen Fehler zu finden. Das ist auch der Grund, warum viele (Cyber-)Kriminelle später in Schwierigkeiten gelangen. Spielen sie anfangs noch im roten Team und müssen nur eine Lücke finden, erfordert es später ganz andere Fähigkeiten, um die Errungenschaften zu verteidigen.
Daneben finden wir noch eine Reihe von wirklich interessanten und oftmals nur kurz auftauchenden Nebenfiguren, die ob der Kürze ihrer Auftritte keine namentliche Nennung rechtfertigen. Dass wir zu ihnen dennoch eine Verbindung aufbauen, liegt nicht zuletzt daran, dass sie allesamt eine kleine Hintergrundgeschichte erhalten, die die Handlung zwar nur selten voranbringen, dafür aber der ganzen Region Leben einhauchen.
Was bleibt?
Read Team Blues von Cory Doctorw ist ein Roman, der so eigentlich nicht funktionieren sollte. Alleine schon der Aufbau widerspricht allen althergebrachten Regeln: Dort, wo es (vermeintlich) spannend und actionreich wird, kürzt er gnadenlos, andere (vermeintlich) belanglose Abschnitte wie Essenspausen werden hingegen ausgiebig geschildert. Und insgesamt ist der Roman eigentlich zu kurz, um ein Panorama des Silicon Valley entfalten zu können.
Doch vielleicht macht gerade dieser erfrischende Umgang mit Konventionen und Regeln den Reiz der Erzählung aus. Cory Doctorow wirft uns in eine Welt, die sich wie die Zukunft anfühlt, aber eigentlich schon längst die Gegenwart darstellt. Er entwirft ein faszinierendes Szenario, herzerwärmende Charaktere, bespricht gesellschaftlich relevante Themen und führt mit seinen gefälligen Schreibstil in einem rasanten Tempo durch die Handlung. Ein Roman für alle, die noch nicht begriffen haben, dass die Zukunft jetzt ist.
Die Fortsetzung The Beezle erschien im englischsprachigen Raum bereits im Februar 2024, nicht einmal ein Jahr später soll bereits der dritte (und wahrscheinlich auch letzte) Teil folgen.
Handelsübliches Taschenbuch
Rein äußerlich handelt es sich um ein handelsübliches Taschenbuch aus dem Heyne Verlag. Wir erhalten also genau das, was wir – angesichts der allerorts gestiegenen Preise – für unser Geld erwarten dürfen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Cover ist ganz schön anzusehen (und kann sogar mit dem Cover der Originalausgabe mithalten!) und auch in Sachen Typographie erwartet uns im Inneren jedenfalls bei den gestaltenden Elementen modernere Schriftarten.
Die Schriftgröße ist gerade so noch vertretbar, man merkt dennoch, wie krampfhaft versucht wurde, aus einem soliden Kurzroman zumindest äußerlich einen ganzen Roman zu machen. Die Übersetzung stammt von Jürgen Langowski und bietet keinerlei Anlass zur Kritik.
Pro/Contra
Pro
- Ungewöhnlicher Plot
- Hohes Erzähltempo
- Sympathisches Figurenensemble
- Spannendes Szenario
Contra
- Ungewöhnlicher Plot
- Erfordert zum vollständigen Genuss ein wenig Hintergrundwissen
Fazit
Cory Doctorow spielt in Red Team Blues mit der Erwartungshaltung seiner Leser und liefert einen in jeglicher Hinsicht ungewöhnlichen, dafür aber nicht weniger unterhaltsamen, brisanten und hochaktuellen Roman ab!
autor: Cory Doctorow
Titel: Red Team Blues
Seiten: 334
Erscheinungsdatum: 2024 (2023)
Verlag: Heyne Verlag
ISBN: 9783453323148
übersetzer: Jürgen Langowski
illustratorIn: /
Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt