buch cover frontal wynne jones tom lynn

Die verborgene Geschichte des Tom Lynn

von Diana Wynne Jones


19.03.2023

  • Phantastik

Diana Wynne Jones nimmt sich mit ihrem Roman Die verborgene Geschichte des Tom Lynn nicht weniger vor, als den Zauber der eigenen Vorstellungskraft auf Papier zu bannen. Doch kann dies gelingen?

Zwei Leben

Polly Whittacker kann mit ihren 19 Jahren auf eine – zugegebenermaßen traurige, aber auch – wenig aufregende und insgesamt recht langweilige Kindheit zurückblicken. Als sie jedoch kurz vor Beginn eines Semesters noch einmal ihre Großmutter besucht und das Gemälde Feuer und Schierling in ihrem Zimmer betrachtet, beginnt sie an ihren eigenen Erinnerungen zu zweifeln.

Nach und nach erinnert sie sich an Begebenheiten, die so gar nicht in ihre öde Vorstadt-Kindheit passen, etwa an ihre erste Begegnung mit dem Cellisten Tom Lynn. Aus einer flüchtigen Begegnung im Rahmen einer Beerdigung wurde eine rege (Brief-)Freundschaft, in der das junge Mädchen und der tollpatschige Tom gegenseitig Geschichten und Bücher austauschten. Bei ihren wenigen Begegnungen schienen Teile dieser Geschichten sogar wahr zu werden und stürzten sie beide in allerlei gefährliche und aufregende Abenteuer.

Doch irgendwann brechen auch diese Erinnerungen ab. Noch seltsamer erscheint Polly, dass sich niemand in ihrem Umfeld an Tom erinnern kann. Hat sie sich ihn und ihre Abenteuer etwa nur ausgedacht, um die Scheidung ihrer Eltern besser verarbeiten zu können? Doch warum wird sie das Gefühl nicht los, dass Tom in Gefahr schwebt und ihre Hilfe braucht?

Klassiker des Genres

Diana Wynne Jones wurde vor allem durch ihre zahlreichen Fantasy-Klassiker bekannt, die sich vornehmlich/vermeintlich an Jugendliche richten. In Deutschland hingegen geriet sie Anfang des Jahrtausends in Vergessenheit, nur wenige Werke der produktiven Schriftstellerin verirrten sich noch in hiesige Gewässer.

Lediglich durch die Anime Klassiker Das wandelnde Schloss (großartig) und Aya und die Hexe (nicht so großartig) des Ghibli Studios bot sich ihr hierzulande noch eine Plattform. Vor einigen Jahren entschloss sich der Knaur-Verlag zu einer Neuauflage ihrer Werke und nach obligatorischen Werken wie Der Howl-Reihe und Fauler Zauber dürfen wir uns nun über ein nicht ganz so bekanntes Werk der britischen Schriftstellerin freuen. Doch was erwartet uns?

Großartige Schriftstellerin

Ich bin die Lektüre dieses Romans recht blauäugig angegangen und habe sie mit der Erwartungshaltung begonnen, ein klassisches Jugendbuch mit leichtem Fantasy Einschlag vor mir zu haben. Und gerade der Beginn des Romans schien diese Erwartungen zu bestätigen. Jones erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Polly Whittacker und bedient sich dabei vornehmlich zahlreicher Rückblenden, die mit der zehnjährigen Polly beginnen und schließlich in der Gegenwart münden.

Die ersten Seiten sind dabei altersgerecht gestaltet und beschreiben die Welt aus der Sicht eines Kindes. Die Beschreibungen der Umwelt und der anderen Figuren erschöpft sich dabei in einer Reduzierung auf einfache äußerliche Aspekte und Gefühle (baumlang oder unheimlich sind dabei beliebte Beschreibungen). Auch strotzen die Briefe von Polly nur so vor Rechtschreib- und Grammatikfehlern.

Allerdings dauert es nicht lange, bis Diana Wynne Jones uns zeigt, was für eine Schriftstellerin in ihr steckt. Mit zunehmendem Alter und mit jeder gewonnenen Erfahrung ihrer Protagonistin werden Jones Beschreibungen immer ausgefeilter und differenzierter. Neben einer zunehmenden Sicherheit in Rechtschreibungs- und Grammatikfragen ist Polly auch dazu in der Lage, Menschen differenzierter betrachten zu können und so werden beispielsweise aus früher unheimlichen Figuren ganz gewöhnliche Figuren – und umgekehrt.

Dieser Prozess vollzieht sich dabei so lautlos und natürlich, dass dem Leser gar nicht bewusst ist, was für großartige schriftstellerische Fähigkeiten dafür von Nöten sind. Ganz großes Kino!

Intertextuelle Anspielungen und Verweise

Trotz der kindlichen Protagonistin und dem zu Beginn noch recht einfachen Schreibstil ist dieser Roman nur bedingt als klassisches Jugendbuch geeignet. Dies liegt zum einen daran, dass die Geschichte verwoben ist mit unzähligen literarischen und musikalischen Anspielungen, die weitestgehend ohne Erklärung bleiben und die sich der Leser erst selbst erschließen muss.

So ist das Buch in Anlehnung an T.S. Elliots Vier Quartette in vier Abschnitte unterteilt, die im weitesten Sinne auch die Marschrichtung der Geschichte vorgeben. Tom Lynns musikalischen Hintergrund folgend sind diese Abschnitte zudem nach italienischen Musikbegriffen benannt (allegro vivace, andante cantabile, allegro con fuoco, presto molto agitato), die die Grundstimmung der folgenden Seiten andeuten.

Eine nicht unerhebliche Rolle spielt mit den Balladen Tam Lin und Thomas the Rhymer auch schottische Folklore. Dem geneigten Leser möchte ich jedoch ans Herz legen, diese erst nach Abschluss des Romans zu lesen – ansonsten würde sich die eine oder andere überraschende Wendung in Luft auflösen.

Nicht zuletzt spielt auch klassische Literatur eine wichtige Rolle. Polly kommt in den Genuss zahlreicher Bücherpakete von Tom Lynn und beschäftigt sich dadurch mit unzähligen Werken, die sich in ihren ausgedachten Geschichten und den darauf folgenden Abenteuern verarbeitet – mit den drei Musketieren, den Herrn der Ringe oder dem goldenen Zweig seien nur drei von vielen Beispielen genannt.

Fragwürdige Beziehungen

Des Weiteren bedarf auch das Verhältnis von Polly zu einigen Erwachsenen einer kritischen Betrachtung. Natürlich stellt sich zunächst einmal ein ungutes Gefühl ein, wenn ein junges Mädchen auf einen wildfremden Mann trifft und mit ihm eine Freundschaft beginnt, zumal sich beide des öfteren ohne weitere Aufsicht treffen – ein Umstand, der auch von einigen Figuren des Romans kritisch angesprochen wird.

Jedoch benimmt sich Tom Lynn zumindest in dieser Hinsicht vorbildlich und hält immer den gebotenen Abstand – nicht einmal andeutungsweise würde man auf die Idee kommen, ein wie auch immer geartetes sexuelles Interesse an ihr zu vermuten. Kritischer ist der Aspekt, dass Tom mithilfe von Büchern Einfluss auf sie nimmt. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, legt er sein Schicksal in ihre Hände und versucht sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Klassische Coming-of-Age Geschichte

Dass dies letztlich nicht so stark ins Gewicht fällt, liegt daran, dass es sich bei Polly um eine starke und selbstständige Figur handelt. Entgegen des Titels des Romans handelt es sich bei dem Roman nämlich nicht um die Geschichte des Tom Lynn, sondern um die Geschichte der Polly Whittacker.

Im Grunde genommen handelt es sich um eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, in der Wynne Jones das Erwachsenwerden einer jungen Frau schildert. Allen Widrigkeiten und Einflussnahme Versuchen zum Trotz entwickelt sie sich zu einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit, die es gar nicht nötig hat, sich von einem Mann retten zu lassen oder das zu tun, was ihr manipulatives Umfeld von ihr verlangt. Dass ihr dies gelingt, ist dabei alles andere als selbstverständlich. Ihre Eltern sind alle andere als ein Vorzeigepaar. Während ihr Vater vor jeglicher Verantwortung flieht, beschränkt sich ihre Mutter darauf, ihrem Umfeld (inklusive Polly), die Schuld an ihrem (vermeintlichen) Unglück zu geben.

Wir begleiten Polly von ihrer Schulzeit bis hin zu ihren ersten Semestern an der Universität von Oxford und erleben mit dem Entstehen und Erlöschen von Freundschaften, Mobbing, Erfolgen und Misserfolgen und der ersten Liebe das typische Leben eines Teenagers.

Phantastische Elemente

Dabei verzichtet die Schriftstellerin weitestgehend auf den großflächigen Einsatz von phantastischen Elementen und erzählt eine beinahe schon bodenständige Geschichte. Die wenigen Male, in denen wir solchen Phänomenen begegnen, lässt Jones es bis zum Schluss offen, ob es sich um das Ergebnis von Pollys blühender Fantasie oder um wahrhafte Magie handelt.

Die Macht der eigenen Vorstellungskraft

Letzten Endes ist es auch völlig bedeutungslos, ob Tom Lynn wirklich existiert oder nicht. Es geht nicht um die Geschehnisse des Romans selbst, sondern darum, was für eine Macht die eigene Vorstellungskraft hat und was für eine Bedeutung Geschichten in unser aller Leben haben. Jones zeigt auf, dass Literatur nicht nur Trost und einen Zufluchtsort bietet, sondern auch darüber hinaus die Stütze darstellt, mit deren Hilfe man sich aus jeder Lebenslage herausziehen kann. Man könnte also sagen, Literatur existiert nicht losgelöst vom wirklichen Leben, sondern ist eng damit verwoben.

Was bleibt?

Die verborgene Geschichte des Tom Lynn (Fire and Hemlock) von Diana Wynne Jones ist kein Buch für Kinder, dafür aber ein faszinierendes Buch über den Zauber der Kindheit, des Lesens und das Erwachsenwerden. Die vielen Anspielungen und der zu Beginn noch recht eigenwillige Schreibstil machen den Einstieg sicherlich nicht leicht. Wer sich darauf allerdings einlässt, wird mit einer großartigen Geschichte belohnt, die uns daran erinnert, warum wir Literatur lieben.

Schöne Buchgestaltung

Rein äußerlich handelt es sich bei dem von Wolf Harranth übersetzten Roman um ein solides und handelsübliches Paperback aus dem Knaur Verlag, dass voll und ganz den Erwartungen an ein Paperback dieser Preisklasse entspricht.

Im Inneren kann das Buch vor allem durch viele kleine, liebevoll eingebaute Details überzeugen. Während jedes Kapitel von einem Zitat die bereits oben angesprochenen schottischen Balladen eingeleitet wird, ruft insbesondere der Briefwechsel zwischen Tom und Polly dem Leser immer wieder ein Lächeln ins Gesicht, wird dieser doch optisch hervorgehoben und jeder noch so kleine Rechtschreibfehler übernommen.

Pro/Contra

Pro
  • Liebeserklärung an das Lesen
  • eine Ode an die eigene Vorstellungskraft
  • Fähigkeit der Autorin, den eigenen Schreibstil zu variieren
Contra
  • kein klassisches Kinderbuch

Fazit


Die verborgene Geschichte des Tom Lynn ist ein faszinierendes Werk über die Macht der eigenen Vorstellungskraft. Definitiv nichts für Kinder, dafür aber umso mehr für Leser, die den Zauber der eigenen Kindheit wiedererleben wollen. Lesenswert!

autorin: Diana Wynne Jones

Titel: Die verborgene Geschichte des Tom Lynn

Seiten: 409

Erscheinungsdatum: 2023 (1985)

Verlag: Droemer Knaur

ISBN: 9783426522912

übersetzer: Wolf Harranth

illustratorIn: –

Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Kommentare
Neuste
Älteste
Inline Feedbacks
Sehe dir alle Kommentare an