
Immer nach Hause
von Ursula K. Le Guin
13.11.2025
- Phantastik
Immer nach Hause gilt als Hauptwerk der legendären Schriftstellerin Ursula K. Le Guin. Nach vielen Jahrzehnten darf sich nun auch die hiesige Leserschaft über eine deutschsprachige Ausgabe freuen. Doch hat sich die lange Wartezeit gelohnt?
„Die Leute in diesem Buch könnten (…) gelebt haben werden“
Napa Valley, Nordkalifornien, in einer weit entfernten Zukunft: Die Archäologin (und / oder Ethnologin?) Pandora widmet ihre Arbeit dem Volk der Kesh, die erst weit nach unserer Zeit entstanden und weit vor Pandoras Zeit wieder untergegangen sind …
Le Guins wichtigstes Werk
Die im Jahre 2018 verstorbene Schriftstellerin Ursula K. Le Guin schuf mit den Erdsee-Romanen und dem Hainish-Zyklus Klassiker der phantastischen Literatur. Als ihr Hauptwerk gilt jedoch „Immer nach Hause“ (Always Coming Home). Dabei handelt es sich um ein selbst für ihre Verhältnisse unkonventionelles Werk.
Im Original wurde es erstmals im Jahre 1985 veröffentlicht und von der Autorin 2017 noch einmal deutlich erweitert. Dennoch sollte es bis zum Jahre 2023 dauern, bis sich ein deutschsprachiger Verlag an die Umsetzung heranwagte. Doch was macht dieses Werk so besonders?
Ein Feuerwerk literarischer Schöpfungskraft
Bei „Immer nach Hause“ handelt es sich nicht einfach um einen Roman oder eine Sammlung von Kurzgeschichten. Stattdessen erwarten die geneigte Leserin unzählige Textformen, die es zu erkunden gilt: Zwar finden wir auch hier klassische Novellen und Kurzgeschichten. Ein Highlight stellt etwa die Novelle um die Grenzgängerin Erzählstein dar. Ferner erwarten uns unzählige Gedichte, Lieder, Historien, Biographien, Wörterbücher, Dramen, Märchen, Rezepte, Illustrationen und mehr. Wir können den Band von vorn bis hinten durchlesen, gleichwohl ebenso problemlos hin- und herwechseln.
So etwas wie eine Rahmenhandlung gibt es nicht. Selbst die kurzen Abschnitte mit der Anthropologin Pandora bilden lediglich den Ausgangspunkt für unsere eigenen Erkundungen. Wir werden dazu eingeladen, anhand der verschiedenen Textformen das Volk der Kesh kennenzulernen, ohne auf die Beschreibungen eines „Dritten“ angewiesen zu sein. Es entsprach immer schon Le Guins Selbstverständnis, Übersetzerin und nicht Autorin zu sein. Hier treibt sie dieses Konzept auf die Spitze – „Show, don’t tell“ auf einem ganz anderen Level.
Positive Zukunftsvision
Im Mittelpunkt steht eine positive Zukunftsvision. Immer wieder stoßen wir auf Anhaltspunkte dafür, dass eine Katastrophe in der Vergangenheit (unserer Zukunft) weitreichende Folgen für die Menschheit hatte. So ist etwa der Meeresspiegel deutlich angestiegen und die Kesh kämpfen mit Fehlgeburten und vielen angeborenen Krankheiten.
Im Einklang mit der Natur
Doch anstatt zu resignieren, entschieden sie sich für ein Leben im Einklang mit der Natur. Ein Leben, das sich in vielen Aspekten von dem unseren unterscheidet. Pflanzen und Tiere gelten als gleichberechtigt und dürfen nur um des Überlebens willen getötet werden. Gesellschaftliche Regeln begrenzen die Geburtenzahlen. Die Gesellschaft ist matriarchal aufgebaut und kommt weitgehend ohne Unterdrückungsmethoden aus. Körperliche Auseinandersetzungen und Jagen gelten als Beschäftigung für Heranwachsende. Auch sprachlich gibt es Besonderheiten: Teilen gilt als Zeichen von Reichtum, während zu viel Besitz als Zeichen von Schwäche und Armut gilt.
Ihre naturverbundene Lebensweise beruht weitgehend auf einer freiwilligen Entscheidung. Theoretisch besitzen sie Zugang zu hoch entwickelten Technologien. Es gibt beispielsweise einen Supercomputer, der das gesamte Wissen der Vergangenheit abgespeichert hat. Allerdings versuchen die Kesh aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: Technologie nutzen sie immer nur im begrenzten Umfang als Hilfsmittel für ein gutes Leben.
Realistische Darstellungen
Beeindruckend ist vor allem, wie realistisch die Darstellungen der Kesh wirken. Le Guin hat jeden noch so kleinen Aspekt bedacht und berücksichtigt. Es wirkt fast so, als würden sie tatsächlich existieren. Dies liegt unter anderem daran, dass unsere Autorin auf Erfahrungen aus ihrer Kindheit zurückgreifen konnte. So besaß ihre Familie einen Sommersitz im Napa Valley. Sie war also bestens mit den Landschaften, Eigenheiten und Gerüchen ihres Handlungsortes vertraut. Ein Umstand, der sich in ihren genauen Beschreibungen bemerkbar macht.
Zudem wuchs sie als Kind zweier Anthropologen auf. Ihre Mutter war die Schriftstellerin Theodora Kroeber (Quinn), ihr Vater der Professor Alfred Kroeber. Beide setzten sich in ihren Arbeiten intensiv mit amerikanischen Ureinwohnern auseinander. Dadurch konnten sie der jungen Le Guin ein breites Wissensfundament vermitteln. Dies ermöglichte es ihr, die Kesh – zweifellos von den indigenen Völkern Amerikas inspiriert – in allen Facetten glaubwürdig darzustellen.
Was bleibt?
Immer nach Hause von Ursula K. Le Guin stellt ein ebenso ungewöhnliches wie herausforderndes Gesamtkunstwerk dar. Wir haben es mit einem Sammelsurium an Texten zu tun, die das realistische Bild eines fiktiven Volks zeichnen. Daneben begeistert alleine schon die Vielfalt und Umsetzung der Textgattungen – ein Zeichen für Le Guins unbestrittene handwerkliche Meisterschaft.
Geneigte Leser erwartet ein Leseerlebnis, das es so nur selten gibt. Wer hingegen konventionellere Erzählformen bevorzugt, wird womöglich Schwierigkeiten mit diesem Werk haben.
Eindrucksvolles Hardcover
Immer nach Hause verdanken wir dem Carcosa Verlag. Es handelt sich um ein Buch, das so nur in einem Kleinverlag erscheinen kann. So ist es nur schwer vorstellbar, dass sich die vielen Arbeitsstunden, die in diesem Buch stecken müssen, auch nur ansatzweise finanziell aufwiegen lassen.
Rein äußerlich haben wir es mit einem gefällig gestalteten Pappeinband zu tun. Das eindrucksvolle Covermotiv stammt von der legendären Ben(swerk). Freuen dürfen wir uns über eine Fadenheftung, ein Leseband und einen bedruckten Vorsatz bzw. Nachsatz. Die unzähligen kleineren und größeren Illustrationen fertigte die Anthropologin und Künstlerin Margaret Chodos-Irvine in Absprache mit der Autorin an, die Landkarten stammen von Le Guin selbst.
Im Anhang erwarten uns noch Essays der Autorin, die thematisch im weitesten Sinne mit dem Roman zu tun haben. Interessant ist auch der Abdruck einer Podiumsdiskussion: unter anderem mit der Illustratorin Chodos-Irvine und dem Komponisten Todd Barton, der einige Musikstücke der Kesh komponierte. Wem das Hardcover zu teuer ist, der kann seit Juni 2025 auf die deutlich günstigere Paperback-Variante zurückgreifen. Die Übersetzung verdanken wir Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch.
Pro/Contra
Pro
- Experimentelle Literatur
- Beeindruckendes Gesamtkunstwerk
- Sorgfältig und liebevoll gestaltetes Buch
Contra
- Experimentelle Literatur
- Kein Einsteigerbuch
Fazit
Immer nach Hause von Ursula K. Le Guin bewegt sich jenseits aller Konventionen und Erwartungen. Ein literarisches Spektakel, das man so nur selten dargeboten bekommt.
autorin: Ursula K. Le Guin
Titel: Immer nach Hause
Seiten: 863
Erscheinungsdatum: 1985
Verlag: Carcosa Verlag
ISBN: 9783910914001
Übersetzer: s.o.
illustratorin: Margaret Chodos-Irvine










Hallo Eugen,
wow! Ich muss sagen, dass ich beim Blick aufs Cover zuerst eine „ganz normale“ Geschichte erwartet habe. Aber dieses Buch verspricht ja so viel mehr.
Ich danke dir für diesen ausführlichen Einblick und überhaupt dafür, dass du diesen kleinen Buchschatz auf deinem Blog vorgestellt hast.
Ich finde es spannend, dass sich hier so viele Formate vereinen. Besonders ansprechend finde ich, dass die Autorin positive Zukunftsperspektiven aufzeigt.
Wenn man Gesprächen so zuhört, hört man ja häufig eher Negatives und auch ich bin nicht gerade positiv gestimmt, wenn ich mir die aktuelle wirtschaftliche Lage ansehe. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, die Hoffnung vermitteln.
Ich danke dir vielmals für diese besondere Buchvorstellung.
Liebe Grüße
Tanja
Hallo Tanja,
Vielen Dank für deinen Kommentar! Ursula K. Le Guin ist eine wundervolle Autorin und auch abseits ihrer bekannten Romane gibt es viel zu entdecken.
Ich bin im Allgemeinen überzeugt, dass Literatur wehtun und unangenehm sein darf und oft auch muss. Aber ich gebe dir vollkommen recht damit, dass in heutigen Zeiten / auch positive Erzählungen und Visionen notwendig sind. Das Buch gehört definitiv dazu.
Liebe Grüße,
Eugen