Sister Carrie
von Theodore Dreiser
21.01.2022
- Klassiker
Theodore Dreiser gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des amerikanischen Naturalismus und schildert in seinem 1901 erschienenen Debütroman Sister Carrie die Lebensumstände und Probleme der sozialen Unterschicht in Amerika.
Eine junge Frau auf der Suche nach Erfüllung
Die junge Caroline Meeber verlässt ihr ländliche Heimat in Wisconsin und sucht ihr Glück in der aufblühenden Industriestadt Chicago. Sie kommt dort bei ihrer älteren Schwester Minnie unter und findet eine erste Anstellung in einer Schuhfabrik. Doch das harte und entbehrungsreiche Leben entspricht in keinster Weise ihren Erwartungen, die Akkordarbeit zehrt an ihren Kräften und das ihren spärlichen Lohn muss Sie ihrer Schwester als Haushaltsgeld zahlen.
Nach einer Krankheit verliert sie schließlich noch ihren Job und steht kurz davor, Chicago wieder zu verlassen, bis sie dem Handelsreisenden und Frauenheld Charles Drout begegnet. Dieser ist fasziniert von ihrer Schönheit und verführt sie schließlich. Dies befreit sie zwar von ihren finanziellen Sorgen, doch glücklich ist sie in diesem Verhältnis nicht.
Drout selbst macht sie mit George Hurstwood bekannt, der ein erfolgreicher und angesehener Geschäftsmann ist. Die beiden beginnen eine Affäre und fliehen schließlich nach New York, wo ihre Leben völlig unterschiedliche Richtungen nehmen sollen…
Meine verspätete Neuentdeckung
Theodore Dreiser gehört zu den unzähligen Autoren, die in Deutschland zu Unrecht beinahe in Vergessenheit geraten sind. Natürlich habe ich vor dem Kauf dieses Buches den Klappentext gelesen, habe aber ehrlicherweise eine Mischung aus Emanzipations- und Liebesroman erwartet, doch die Wucht und Kraft dieses Romans haben mich völlig umgehauen und es fiel mir schwer, das Buch auch nur für einen kurzen Moment aus der Hand zu nehmen.
Das harte Leben der Arbeiterklasse
Wie eingangs erwähnt, gehört Dreiser zu den amerikanischen Naturalisten und versucht in seinem Roman die amerikanische Unterschicht möglichst realistisch abzubilden. Seine Protagonisten stammen aus der Unter- und Mittelschicht der amerikanischen Gesellschaft und träumen vom sozialen Aufstieg. Dreiser beschreibt mit klaren, ja gerade zu kalten Worten die widrigen Lebensbedingungen dieser Menschen. In einer Zeit ohne Arbeitnehmerrechte und langen Arbeitszeiten war keine Zeit für Ideale und Träume, es ging um das blanke Überleben und den oftmals verzweifelten Versuch, diesem Hamsterrad zu entkommen.
Während die großen Städte aufblühten und die Oberschicht sich pausenlos in teuren Restaurants und im Theater vergnügte, kämpfte die Unterschicht um ihr Überleben. Ob Fabrikarbeiter oder aufstrebender Barmanager, die Unter- und Mittelschicht wurden von kaum mehr als ihren Instinkten gesteuert und in ihrer Welt drehte sich alles um harte Fakten: Überleben, Geld, Besitz, Ansehen und Sex. Dabei zeigt Dreiser nicht mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Probleme, sondern schildert uns das Leben und die Gedanken dieser Menschen und vermittelt so um so eindringlicher seine Botschaft.
Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive
Dreiser nimmt dabei die Perspektive des allwissenden Erzählers ein und kommentiert dabei mal sarkastisch, mal nüchtern die Handlungen und Gedanken seiner Figuren. Seine Kommentare lässt er immer wieder im Text einfließen und obwohl es keine eindeutige optische Trennung gibt, kann man als Leser problemlos zwischen den Figuren und dem Autor unterscheiden.
Gerade in den besten Szenen des Romans verschmelzen die Gedanken der Protagonisten mit den Kommentaren des Autors. Der Leser wird dort gezwungen, zwischen Innen- und Außenperspektive zu wechseln und mal aus einer begrenzen und mal aus einer größeren Perspektive eine Szene zu betrachten. Dazu zähle ich etwa die großartige Safe-Szene mit Hurstwood, in der Dreiser seine inneren Konflikte punktgenau darstellt, aber auch die Beschreibungen von Chicago und New York und nicht zuletzt die Schilderungen der miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.
Carries unwahrscheinlicher Aufstieg
Aus seinem Figurenensemble stechen zwei Protagonisten besonders hervor. Da wäre zum einen Carrie, die nicht nur aufgrund des Buchtitels im Fokus der Handlung steht. Zu Beginn ist sie eine recht naive junge Frau, die ohne ein Handwerk und besondere Begabung nach Chicago zieht. In Chicago angekommen, muss sie feststellen, dass Träume allein nicht ihr tägliches Überleben sicherstellen können und sucht sich eine Arbeitsstelle, kommt aber mit harter körperlicher Arbeit und langen Arbeitszeiten nicht zurecht.
Viel lieber träumt sie von einem sorgenfreien Leben voller Kleider und Theaterbesuche. Um sich von der lästigen Arbeit zu befreien, nutzt sie ihr gutes Aussehen und lässt sich zunächst mit Drout und dann mit Hurstwood ein. Erst eine finanzielle Notlage bringt sie dazu, Theaterschauspielerin zu werden. Ironischerweise ermöglichen gerade ihre Eitelkeit und ihre Tagträume ihre spätere Karriere.
Hurstwoods Leidensweg
Die zweite wichtige Figur ist der Geschäftsmann Charles Hurstwood. Dieser hat sich im Laufe seines Lebens zum angesehenen und respektierten Barmanager hochgearbeitet, ein bescheidenes Vermögen angehäuft und steht kurz vor dem Aufstieg in die Oberschicht. Seine Ehe hingegen ist schon seit langer Zeit nur noch eine Vernunftehe und seine Kinder ignorieren ihn. Vermutlich auch deswegen gibt er seinen Instinkten nach und fängt eine Affäre mit Carrie an. Diese Affäre stellt einen Wendepunkt in seinem Leben dar, von da an geht es mit ihm nur noch bergab.
Mitreißende Protagonisten
Zu Dreisers größten Stärken gehört sicherlich seine Charakterzeichnung. Es spricht für die Qualitäten eines Schriftstellers, wenn er es schafft, dass man für eigentlich unsympathische und instinktgetriebene Menschen Empathie und Mitgefühl entwickeln kann und ihr Schicksal bis zum Ende gebannt verfolgt. Jede Niederlage der Figuren wird zur eigenen, jeder Triumph wird so gefeiert, als wäre man selber dafür verantwortlich. Das liegt vor allem an der präzisen und realistischen Darstellung seiner Figuren. Der Leser dringt bis in ihre verborgensten Gedanken vor, versteht ihre Hintergrundgeschichte und kann so auch ihre Handlungen nachvollziehen. So sieht man bereitwillig über Carries negativen Eigenschaften hinweg und erfreut sich lieber an ihrer guten Seele und ihrem Triumph über die Männerwelt.
Hurstwood ist für mich sogar der interessanteste Protagonist und hat wohl auch die stärksten Szenen im gesamten Buch. In der ersten Buchhälfte tritt er nur vereinzelt auf, ab der zweiten Buchhälfte wird er neben Carrie zur Hauptfigur des Romans. Insbesondere in der bereits erwähnten Safe-Szene, während der Streiks in New York und auf den letzten Seiten des Romans fährt Dreiser zur Höchstform auf und macht Hurstwood zu einer plastischen Figur, die wir mit all ihren guten und schlechten Seiten kennen und lieben lernen.
1900 ein kontroverser Roman
Als Sister Carrie 1900 in den Vereinigten Staaten erschien, spaltete der Roman die Öffentlichkeit. Die einen hielten den Roman für ein Meisterwerk, die anderen einen unmoralischen Roman voller falscher Botschaften. Dabei musste Dreiser für die Veröffentlichung seines Romans schon große Kürzungen vornehmen, erst 1981 erschien die vom Autor vorgesehene Fassung, die ganze 36 000 Wörter mehr umfasste. Angeblich ließ sein erster Verleger sogar die Hälfte der ersten Auflage im Lager liegen, als seine Frau Bedenken aufgrund des Inhalts äußerte.
Doch woran störte sich die amerikanische Öffentlichkeit? Da wären zum einen natürlich die erotischen Szenen, die ein heutiger Leser wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise als solche erkennen dürfte. Viel schlimmer war Carries Lebensstil. Sie lebte als unverheiratete Frau mit zwei Männern zusammen, sorgte für Chaos in deren Leben und im Gegensatz zu Madame Bovary kam sie damit sogar davon und konnte sich unabhängig von Männern eine eigenständige Existenz aufbauen.
Ein Novum und ein Skandal in der amerikanischen Literatur, von dem sich Dreiser nie wirklich erholen konnte. Zwar gelang er mehr als zwei Jahrzehnte später mit Eine amerikanische Tragödie ein Publikumserfolg, doch in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts geriet er – nicht zuletzt auch wegen seiner späteren Nähe zum Kommunismus – in Vergessenheit.
Wunderschöne Buchgestaltung
Die von Fabian Michael gestaltete Ausgabe der Anderen Bibliothek ist wie immer ein kleines Kunstwerk. Neben der obligatorischen Fadenheftung, dem Leseband, dem stabilen Einband und dem hochwertigen Papier ist es vor allem die individuelle Gestaltung jedes einzelnen Buches, die diesen Verlag so faszinierend macht und den recht hohen Preis mehr als nur rechtfertigt. Der Einband ist in einem blauen Metallic Look gehalten und bildet einen wunderbaren Kontrast zur roten Akzentfarbe im Inneren des Buches.
Im Vorsatzpapier findet sich die Illustration eines fahrenden Zuges, in dem sich zwei wichtige Szenen des Romans abspielen und im Nachsatzpapier sehen wir New York im Jahre 1900. Auch die Kapitelanfänge sind mit kleinen Illustrationen ausgestattet und machen das Blättern in diesem Band zu einem einzigen Vergnügen. Der Papierschuber ist wie immer schön gestaltet, erfüllt aber keine Schutzfunktion und droht beim Herausziehen des Buches zu reißen. Das unterhaltsame Nachwort des deutschen Schriftstellers Ilija Trojanow umfasst auf wenigen Seiten die Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans.
Pro/Contra
Pro
- mitreißende Protagonisten
- realistische Schilderungen der Innen- und Außenwelt
- wunderschöne Buchgestaltung
Contra
- –
Fazit
Von Sister Carrie geht eine Kraft aus, die ich in dieser Form und Intensität nicht erwartet hätte. Es geht um die großen und die kleinen Fragen des Lebens, um die höchsten Gefühle und die niedersten Instinkte und um großartige ambivalente Figuren, die sich all dem stellen müssen – ein Meisterwerk, das noch lange in Erinnerung bleiben wird!
autor: Theodore Dreiser
Titel: Sister Carrie
Seiten: 605
Erscheinungsdatum: 1900
Verlag: Die Andere Bibliothek
ISBN: 9783847703921
übersetzerin: Susann Urban
illustrator: –