Quintana Roo
von James Tiptree Jr.
21.06.2024
- Phantastik
Wenige Jahre vor ihrem Tod thematisierte James Tiptree Jr. alias Alice B. Sheldon die Folgen der zunehmenden Umweltzerstörung am Beispiel des mexikanischen Bundesstaates Quintana Roo. Nun liegen diese Geschichten gesammelt in einem Band vor – doch wie gut sind diese Geschichten gealtert?
Was ist, wenn O. J. Simpson als Frau angefangen hätte?
In Was die See bei Lirios anspülte genießt unser Erzähler sein behagliches Leben in Quintana Roo als ein mysteriöser Fremder auftaucht. Begegnen sich beide zunächst noch mit gegenseitigem Misstrauen, so weichen die Fronten rasch auf. Am Abend erzählt der Fremde eine unheimliche Geschichte über ein wirklich geheimnisvolles Strandgut …
Der Junge, der auf Wasserskiern in die Ewigkeit fuhr führt uns zunächst zu einem alten Amerikaner, der sich seinen Lebensabend mit regelmäßigen Tauchgängen versüßt. Als er einem Freund in Not hilft, dankt dieser es ihm mit einer Geschichte. Er erzählt ihm die Geschichte des K´o, der sich wie ein Gott im Wasser bewegte und wie dieser sein größtes Kunststück vollbrachte …
Hinter dem toten Riff führ uns zum Belize Barrier Reef, welches erst seit kurzem von Touristen überschwemmt wird. Auch unser Erzähler möchte sich dem Treiben anschließen, doch die Einheimischen empfinden Sympathien für ihn und berichten ihm von einem dunklen Geheimnis …
Faszinierende Frau
Aufmerksame Leser dieses Blogs wissen, dass ich ein großer Fan der Autorin James Tiptree Jr. alias Alice B. Sheldon bin. Ihr Leben war dabei mindestens genauso faszinierend wie ihr Werke und wurde von mir an verschiedenen Stellen bereits ausführlich behandelt. Deshalb nur die Kurzfassung: Kind einer wohlhabenden Familie, ausgedehnte und exotische Reisen, Kinderbuchillustratorin, überstürzte erste Ehe und Scheidung, eine der ersten Frauen bei der Air Force im Zuge des Zweiten Weltkrieges, Mitbegründerin der CIA, anschließend Studium der Psychologie, Promotion, dann im späten Alter Literatur, hielt jahrelang Größen der phantastischen Literatur hinsichtlich ihres Geschlechts zum Narren, im hohen Alter dann schließlich der Freitod gemeinsam mit ihrem zweiten Mann.
Die mit Preisen überhäufte Tiptree gewann für diese Zusammenstellung (die Erzählung Hinter dem toten Riff gewann noch als Einzelveröffentlichung einen Locus-Award) in ihrem Todesjahr 1987 posthum den World Fantasy Award. Doch was macht dieses schmale Büchlein so besonders?
Wie Flaubert
Zunächst einmal die Basics: Handwerklich gibt es nicht, was Tiptree nicht kann. Ob es nun um Erzählperspektiven, Genres, Dialoge, Handlungen, Monologe, Schweigen, Spannung oder experimentelle Erzählansätze geht – nichts ist ihr zu schwer, alles gelingt ihr scheinbar mühelos und so perfekt, als würde sie es Flaubert gleichtun und jeden einzelnen Satz bis zur Heiserkeit die Seine herunterschreien.
Gleichzeitig prägen viele Elemente der Unsicherheit und Unbeständigkeit die drei Erzählungen: Dies fängt schon bei unserem namenlosen Ich-Erzähler(n) an. Wir wissen, dass es sich um alte Gringos handelt, doch dies ist schon beinahe die einzige verlässliche Information. Handelt es sich in allen Erzählungen um denselben Erzähler? Verschiedene? Wie steht es um die zeitliche Abfolge?
Unzuverlässig und Verschachtelt
Doch dabei bleibt es nicht. Darüber hinaus sind die Erzählungen sehr verschachtelt und folgen immer der gleichen Plotstruktur: Unser Erzähler begegnet irgendwann einem noch unzuverlässigeren Erzähler, der ihm eine mysteriöse Geschichte erzählt. Phantastische Elemente beschränken sich dabei – sofern vorhanden – alleine auf diese Geschichten. In ihrem Nachwort ordnet Anna Koenen die Geschichten unter anderem auch deswegen dem magischen Realismus zu – also phantastische Literatur für Menschen, die noch in U- und E-Kategorien denken.
Wir haben es also schon im Ausgangspunkt mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun, der die Geschichte eines anderen und noch fragwürdigeren Erzählers erzählt bekommt und müssen jeden Satz – ja beinahe schon jedes Wort – infrage stellen: Erzählen sie uns die Wahrheit, sind sie verrückt, schmücken sie ihre Berichte gerne aus oder haben sie einfach zu tief ins Glas geblickt?
Widersprüchlich und Faszinierend
Neben diesen stilistischen Besonderheiten steht auch der mexikanische Bundesstaat Quintana Roo im Vordergrund. Bereits aus dem kurzen Vorwort der Autorin wird deutlich, welche Zuneigung sie diesem Ort entgegenbrachte. Kein Wunder, möchte man ob der Widersprüchlichkeit dieses Landstriches sagen, der sich nur in Extremen zu bewegen scheint. Auf der einen Seite Traditionen und Mayas, auf der anderen Seite Massentourismus und Zerstörung und beide Seiten scheinen voneinander abhängig zu sein.
Interessant ist dabei insbesondere, wie weit Tiptree (mal wieder) ihrer Zeit voraus war und bereits vor über vierzig Jahren vor der Zerstörung der Umwelt und den damit einhergehenden Konsequenzen warnte. Daneben erwartet uns wieder einmal die volle Bandbreite an typischen Tiptree-Themen wie die Bedeutung von Geschlechterrollen, Sexualität, das Spiel mit Konventionen und Traditionen und die Bedrohlichkeit des Alltäglichen.
Was bleibt?
Quintana Roo versammelt Kurzgeschichten von James Tiptree Jr., die sich deutlich von ihrem Gesamtwerk abheben und dann doch wieder typisch für die Meisterschriftstellerin sind. Erzählerisch handelt es sich um recht anspruchsvolle Geschichten, die die volle Aufmerksamkeit der Leserin fordern. Thematisch handelt es sich um den typischen Tiptree-Kanon mit übergeordneten Themen wie Umweltzerstörung, Geschlechterrollen und ein kritischer Blick auf Konventionen und Traditionen.
Dabei wird sie zu keinem Zeitpunkt belehrend und vergisst bei aller Ernsthaftigkeit niemals ihren Humor. Für Fans der Autorin handelt es sich selbstverständlich um Pflichtlektüre, Neueinsteiger sollten es vermutlich mit einem zugänglicheren Werk probieren.
Handwerklich solides Hardcover
Auch bei dem fünften Band der James Tiptree Jr. Werkausgabe aus dem Septime Verlag handelt es sich um handwerklich solides Hardcover. Der Pappeinband ist stabil und schein – genau wie der Schutzumschlag und das stabile Papier – einiges aushalten zu können. Auch hier kann die minimalistische Schutzumschlaggestaltung überzeugen und nicht zuletzt dürfen wir uns auch über ein Leseband freuen.
Den drei Erzählungen ist ein kurzes Vorwort der Autorin höchstselbst (1986) vorangestellt, das uns thematisch auf die Geschichten einstimmt. Das Nachwort von Anna Koenen bietet hingegen in mehreren Punkten Anlass zur Kritik. Nicht nur, dass sie eine meisterhafte Autorin als Bühne für ihre eigene wirklich verbitterte Weltanschauung nutzt – ihr Nachwort wirkt an jeder Stelle wie gewollt und nicht gekonnt und wer sich permanent selbst in Fußnoten zitiert, der hat ein doch sehr weites Verständnis vom Einsatz selbiger.
Werke von James Tiptree Jr.
Bibliographie
Pro/Contra
Pro
- Handwerklich perfekt
- Thematisch am Puls der Zeit
Contra
- Erzählstil für Neueinsteiger womöglich zu experimentell
- Überflüssiges Nachwort
Fazit
Quintana Roo bietet anregende und stilistisch bisweilen anspruchsvolle Kurzgeschichten, die sich in erster Linie an Tiptree-Fans richten. Neueinsteiger sollten mit ihrem Frühwerk beginnen und später zurückkehren.
autorin: James Tiptree Jr.
Titel: Quintana Roo
Seiten: 158
Erscheinungsdatum: 1981 – 1983 (s.o.)
Verlag: Septime Verlag
ISBN: 9783902711045
übersetzer: Frank Böhmert
illustratorIn: –
Reihe: James Tiptree Jr. Werkausgabe (5)