Der alte Mann und das Meer
von Ernest Hemingway
29.07.2022
- Klassiker
Ernest Hemingways 1952 erschienene Novelle Der alte Mann und das Meer gehört zu den bedeutendsten Werken des letzten Jahrhunderts und hatte bedeutenden Anteil daran, dass ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Doch kann die Geschichte heute noch überzeugen?
Worum geht es?
Die Geschichte sollte jedem halbwegs an Literatur interessierten Leser hinlänglich bekannt sein, darum beschränke ich mich bei meiner Beschreibung auf das Nötigste. Unsere Geschichte spielt in einem kleinen Fischerdorf in Kuba und stellt den alten Fischer Santiago in den Mittelpunkt des Geschehens. Bereits seit vierundachtzig Tagen hat er beim Fischen keinen Erfolg und wird von den anderen Einwohnern des Dorfes bereits gemieden – das Unglück verfolgt ihn.
Also beschließt er in seinem kleinen Ruderboot weiter als üblich auf das offene Meer hinauszufahren und tatsächlich hat er zunächst Glück – ein großer Fisch beißt an. Santiago ist sich sicher, den größten Fang seines Lebens gemacht zu haben. Doch dies soll nur der Beginn eines tagelangen, aussichtslosen Kampfes sein – gegen den riesigen Marlin, gegen die Haie, die vom Blut des Fisches angezogen werden und nicht zuletzt auch ein Kampf gegen sich selbst …
Was macht den Reiz aus?
Wie bereits eingangs erwähnt dürfte es kaum jemanden geben, der noch nichts von dieser Erzählung gehört hat. Der alte Mann und das Meer gehört zum festen Bestandteil des Literaturunterrichts, ist Gegenstand zahlreicher Verfilmungen und ist allgemein in unserem kulturellen Programm verankert. Ich selber habe dank eines engagierten Lehrers wohl jede Verfilmung gesehen und den Roman unzählige Male gelesen.
Aber wie es so oft in der Literatur der Fall ist, wird jede Erzählung von solchem Rang Opfer von verkopften Literaturwissenschaftlern, die jede schöpferische Kraft aus einer Erzählung saugen und sich auf ihre Kosten profilieren wollen. Darum möchte ich diesen Ansichten keinen Raum bieten, sondern mich auf das konzentrieren, was diese Erzählung für mich ausmacht.
Der Stil – das Eisbergmodell
Für mich ist das eindeutig die literarische Wucht, die von einem animalischen Schriftsteller wie Hemingway ausgeht. Für viele mag das unverständlich sein, oft schon habe ich gehört, dass diese Erzählung als langweilige und ereignislose Fischergeschichte abgestempelt wird. Und tatsächlich – wer pausenlose Action und schnelle, dramatische Wendungen sucht, der wird unweigerlich enttäuscht werden.
Dabei bietet die Geschichte viel von beidem, aber nicht in der Form, wie wir es heute gewohnt sind. Auf Handlungsebene geschieht nicht viel – und wenn, dann handelt Hemingway das Geschehene in wenigen einfachen Worten ab. Vielmehr kultiviert Hemingway in seiner Erzählung das, was heutzutage als Eisbergmodell bekannt ist. Auf wenigen Seiten verdichtet Hemingway das Wesentliche seiner Erzählung und überlässt es dem Leser, den Rest mit seiner Vorstellungskraft auszufüllen.
Das, was wir als Leser wahrnehmen, ist also nur der Beginn der Leseerfahrung. Wir müssen unsere eigenen Erfahrungen und Gedanken mit einbringen und so den Text mit Leben ausfüllen. Wer das nicht tut oder nicht tun möchte, dem wird unweigerlich viel verborgen bleiben. Wer sich hingegen darauf einlässt, der wird eine höchst subjektive Lektüre erleben, die sich stark von der eines anderen Lesers unterscheiden kann – wohl auch ein Grund für die höchst unterschiedlichen Interpretationen der Erzählung. Wesentliche Kernpunkte der Erzählung bilden jedoch immer die Frage nach dem Sein, der Rolle des Menschen in der Welt und der Kampf gegen die Natur.
Ernest Hemingway – Eine der schillerndsten Figuren der Literatur
Ernest Hemingway gehört sicherlich zu den schillerndsten Figuren der Literaturgeschichte. Für die einen ist er ein unerträglicher Macho und Lebemann, dessen überschwängliches Leben seine literarischen Werke überstrahlt, für die anderen stellt er einen Höhepunkt der Literatur dar. Ich möchte mich an dieser Stelle gar nicht zu sehr zu seinem Leben auslassen – das wird Gegenstand anderer Rezensionen sein. Ich möchte mich hier vielmehr auf die für den Roman entscheidenden Aspekte seines Lebens konzentrieren.
Hemingway veröffentlichte Der alte Mann und das Meer 1952 im Alter von 53 Jahren in der Zeitschrift Life. Bis dahin hatte sich bereits durch eine Reihe von Romanen als Schriftsteller etabliert, jedoch überzeugten seine neueren Werke schon seit einigen Jahren nicht mehr die Kritik. Das sollte sich mit seiner neusten Novelle ändern – binnen weniger Tage verkaufte sich das Heft millionenfach und begeisterte sowohl Leser als auch Kritiker. 1953 sollte der Pulitzer Preis folgen, 1954 schließlich der Nobelpreis für Literatur. Auch wenn sein Platz wahrscheinlich schon vorher gesichert war, zementierte die Novelle seinen Rang in der Literaturgeschichte und bis heute ist sein Name untrennbar mit dieser Geschichte verbunden.
Warum als Hörbuch?
Wie man unschwer erkennen kann, liegt der Schwerpunkt dieses Blogs auf gedruckten Werken. Ich höre zwar gerne Hörbücher, aber dort beschränkte ich mich zumeist auf Sachbücher – ich betrachtete Hörbuchumsetzungen von Romanen immer mit einer gewissen Skepsis. Im letzten Jahr konnte ich mich aber dank Tipps von Florian von Kapitel 7 und kleineren Hörproben des Tumanbay Podcasts vom Gegenteil überzeugen lassen. Im nächsten Schritt galt es, einen geeigneten Klassiker auszuwählen.
Ich habe mir eine Liste von Büchern zusammengestellt und anschließend unzählige Hörproben angehört. Die Stimme der Vorleser ist wohl (neben der Qualität der Erzählung) das wichtigste Kriterium und mangels Vorkenntnisse in der Sprecher-Szene stellte dies wohl die größte Hürde für mich dar. Am liebsten wäre mir ja eine Art Hörspiel gewesen, aber da habe ich (noch) nichts Ansprechendes im Klassiker Bereich gefunden.
Die perfekte Stimme für diese Erzählung
Schließlich bin ich auf Christian Brückner gestoßen (u.a. der Synchronsprecher von Robert de Niro), der eine Reihe von Klassikern eingesprochen hat und bin schließlich an seiner Fassung von Hemingways Der alte Mann und das Meer hängen geblieben. Nach einer Minute der Hörprobe war meine Suche beendet, hier habe ich genau das gefunden, was ich gesucht habe. Die leicht raue und strenge Stimme von Christian Brückner passt einfach perfekt zu der Erzählung, genau so habe ich mir die Stimme von Santiago vorgestellt.
Brückner passt sein Tempo punktgenau an der Erzählung an und schildert realistisch und eindringlich den Kampf des Fischers mit sich und der Natur. An seine Grenzen stößt eine solche Stimme naturgemäß bei Frauen und Kindern. Auch wenn sich Brückner hier sichtlich Mühe gibt – man nimmt ihn die Frau einfach nicht ab. Da sich solche Abschnitte allerdings in Grenzen halten, fällt das nicht weiter ins Gewicht. Insgesamt muss ich sagen, dass ich mir keinen besseren Erzähler für diese Erzählung vorstellen könnte – seine Stimme passt nicht einfach nur, sie bereichert die Erzählung ungemein.
Werke von Ernest Hemingway
Pro/Contra
Pro
- eine packende Erzählung, die den Leser zu den elementarsten Fragen des Lebens führt
- Christian Brückners tiefe und strenge Stimme passt perfekt zur Erzählung
- in dieser Erzählung treibt Hemingway sein Eisbergmodell zum Äußersten
Contra
- genau das muss man auch beachten – wer sich von einer Erzählung nur berieseln lassen möchte, wird hier nicht glücklich werden
Fazit
Der alte Mann und das Meer zählt ohne Frage zu den bekanntesten Werken der Weltliteratur. Wer sich auf Hemingways Erzählweise einlassen kann, der wird eine Lektüre erleben, die noch lange in Erinnerung bleiben wird. Wer dies nicht möchte, sollte es gar nicht erst versuchen.
autor: Ernest Hemingway
Titel: Der alte Mann und das Meer
Laufzeit: 3 Stunden
Erscheinungsdatum: 1952
Verlag: Parlando Verlag
ISBN: 9783732471270
übersetzerIn: –
sprecher: Christian Brückner
Immer wenn sich das Gelesene dem Ende zuneigt, komme ich hierher. Manchmal nur kurz, weil ich eigentlich schon weiß, was es als nächstes werden wird. Manchmal, um mir (d)eine zweite Meinung einzuholen, um wirklich sicher sein zu können, dass ich nur das Beste erwische. Immer, um die schönsten Ausgaben und Verlage zu finden. Irgendjemand hat mal gesagt, wir kaufen nicht den Gegenstand an sich, wir kaufen eine Erfahrung. Und eine gebundene Ausgabe, die wertig und schwer in der Hand liegt, bringt eben diese besondere Erfahrung. Es ist eine schöne Sache und diesen schönen Sachen zollen wir automatisch mehr Respekt, mehr Anerkennung, mehr Aufmerksamkeit.
Christian Brückner ist ein großartiger Leser. Er ist sanft, zugleich kraftvoll und sein Leserhythmus ist unfassbar angenehm. Er liest übrigens auch Oblomow auf Audible.
Er und David Nathan, der fast alle Werke von Murakami vorgelesen hat, sind meine unangefochtenen Favoriten.
Seit ich Hemingway das erste Mal las und mittlerweile einen guten Überblick über seine wichtigen Werke bekommen habe, messe ich alles Andere an ihm. Es ist oft gut, weil ich so viel genauer feststellen kann, warum er mir gefällt und ein anderer aus diesem Grund weniger. Die Dialoge der Liebenden in In einem anderen Land und Wem die Stunde schlägt haben mich so berührt, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder vergessen werde und auch hier fortan, alles daran gemessen wird. Diese Erfahrung hat mir viel gegeben, trotzdem denke ich manchmal: Hätte ich ihn doch bloß später kennengelernt, so hätte ich mich an viele Werke unvoreingenommener herangewagt. Naja, so ist das Leben wohl einfach. Wir können nur an dem messen, was uns vertraut ist.
Wie entscheidest du, was du liest, Eugen? Was sind die Anforderungen, die ein Buch sofort erfüllen muss, die dich zum Kauf bewegen?
Danke für deine großartige Arbeit hier!
Hallo,
Zunächst einmal vielen Dank für deine lobenden Worte und deinen umfangreichen Beitrag – ich fürchte, ich werde dem nicht einmal annähernd gerecht werden können! Es ist immer schön zu hören, dass das eigene Tun auf Resonanz stößt – gerade bei jemanden, der eine ähnliche Einstellung zu schönen Büchern und Literatur besitzt.
Ich kann deine Bewunderung für Hemingway sehr gut nachvollziehen. In seinem vermeintlich einfachen Worten liegt so viel mehr Kraft, weil Wahrheit, als in den ellenlangen Ausführungen anderer Schriftsteller. Und mit den von dir genannten Werken hast du auch zwei eindrucksvolle Beispiele genannt, bei denen es mir ähnlich ergeht wie dir. Glücklicherweise kann ich die meisten literarischen Werke dennoch unvoreingenommen lesen und genießen. Dafür fällt mir zu viel Wort-Tand in Fachtexten umso mehr auf. Und wenn ich Rezensionen verfasse, dann muss ich mich vor mir selbst für jeden Nebensatz rechtfertigen. So hat eben jeder sein Päckchen zu tragen.
Mein Lese- und Kaufverhalten ist von vielen Faktoren abhängig, die mir selbst vermutlich nicht einmal vollständig bewusst sind. Ausgangspunkt meiner Kauf- und Leseentscheidung ist die Entscheidung für Klassiker im weitesten Sinne und phantastische Werke. Ab und an wage ich mich zwar in andere Gefilde, um nicht einzurosten, aber das passiert eher seltener.
Ich halte mich dabei einerseits an das Programm bewährter einschlägiger Verlage (gerade in der Backlist verstecken sich oft Schätze), halte aber immer auch Ausschau nach neuen Verlagen und versuche zumindest einen groben Überblick über die Verlagsszene zu behalten. Ansonsten folge ich noch einer Vielzahl von Bloggern, deren Meinung ihr sehr schätze – alle aufzulisten würde den Umfang dieses Beitrags sprengen. Bibliophile Aspekte können dabei den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben.
Mein Leseverhalten hängt dann von verschieden Umständen ab. Etwa davon, ob ich die Zeit und Aufmerksamkeit habe, um mich „anspruchsvolleren“ Werken angemessen nähern zu können. Bin ich von einem Buch begeistert, können einerseits viele weitere direkt hintereinanderweg folgen, es kann aber auch sein, dass ich längere Abstände zwischen einzelnen Werken brauche. Auch versuche ich auf längere Sicht Abwechslung in mein Leseverhalten zu bringen, dh wenn ich bereits vier Klassiker gelesen habe, dann wird das nächste Buch höchstwahrscheinlich ein phantastisches Werk und umgekehrt, auf Kurzgeschichten sollten irgendwann wieder Romane folgen etc.
Viele Grüße,
Eugen
Eine treffende Beschreibung von Der alte Mann und das Meer.
Diese Erzählung von Ernest Hemingway hat Tiefe, wie kaum eine andere. Ich habe versucht, dies ein wenig herauszuarbeiten.
https://hemingwayswelt.de/worum-geht-es-bei-hemingways-der-alte-mann-und-das-meer/
Ein toller Artikel und darüber hinaus auch eine schöne Seite!
Auch wenn eine „Männerfigur“ wie Ernest Hemingway heute absolut unzeitgemäß erscheint: Ich muss immer wieder meinen Respekt vor seinem literarischen Werk zollen! Um ihn besser zu verstehen, möchte ich allen ans Herz legen, sein Haus in Key West zu besuchen! Ein Zeitsprung! Und einen solchen braucht man, um den Autor Hemingway zu verstehen. Toll, dass hier auf eines seiner großen Werke aufmerksam gemacht wird – ein Buch, das heute auch von seinem Rhythmus her, gegen den Zeitgeist läuft!
Vielleicht braucht es eines solchen Lebensstils, um Texte mit einer solchen Kraft schreiben zu können? Viele Schriftsteller sind auf ihre Weise großartig, aber ich habe noch keinen Autor gefunden, der mit so wenigen Worten eine vergleichbare „animalische“ Wirkung entfalten kann.
Das Haus in Key West werde ich mir auf jeden Fall vormerken, sollte ich es einmal nach Florida schaffen, großartig, dass alles erhalten wurde!