Ein Leben
von Guy de Maupassant
04.06.2021
- Klassiker
Guy de Maupassant ist ein Autor, dessen Romane ich trotz großen Interesses immer wieder vor mich her geschoben habe. Nach der Lektüre des gelungenen Reisebericht Auf See war es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis ich mich an seinen Debütroman Ein Leben wagte.
Böses Erwachen
Jeanne als hilflose Ehefrau
Guy de Maupassant gilt als großer Verehrer Flauberts und wurde von ihm bis zu seinem Tod protegiert. Nicht umsonst ähnelt der Roman zumindest in Ansätzen Flauberts Madame Bovary. Ähnlich wie sein berühmter Lehrmeister beschreibt Maupassant die Geschichte einer unglücklichen Frau, die in ihrer Ehe gefangen ist, wählt jedoch einen anderen Ansatz. Seine Hauptfigur Jeanne ist im Gegensatz zu Emma ein Opfer ihrer Umstände. Wie viele Frauen ihrer Zeit gerät sie in eine unglückliche Ehe, aus der es für Sie kein Entkommen gibt.
Ihre Existenz hat keinen höheren Sinn, sie muss nicht arbeiten um zu Überleben und hat auch sonst keine sinnvolle Beschäftigung, der sie gerne nachgeht oder auch nur nachgehen kann. Mit der Heirat gehört sie ihrem Mann und ist ihm und seinem Wohlwollen hilflos ausgeliefert. Sie ist dazu verdonnert zahlreiche Schicksalsschläge zu ertragen, ob es nun die Affären ihres Mannes, Fehlgeburten, ihre gesellschaftliche Ächtung oder ihr verzogener Sohn sind.
Figurenensemble ohne Identifikationspotential
Die anderen Charaktere passen zu diesem negativen Weltbild. Es ist schwer jemanden zu finden, für den man Sympathien entwickeln kann und dem man ein besseres Schicksal vergönnt. Kein Charakter ist wirklich gut, jeder hat ein Geheimnis und enttäuscht Jeanne auf die eine oder andere Art und Weise. Nicht einmal Jeanne selbst wünscht man ein besseres Schicksal, da sie sehr früh resigniert und zum Spielball ihrer Umgebung wird.
Maupassants pessimistische Weltsicht
Diese drückend-pessimistische Handlung prägt den ganzen Roman und macht die Lektüre zu einer anstrengenden Angelegenheit. Dies ist vom Autor durchaus beabsichtigt, da Maupassant als Naturalist sich selber vermeintlich (be)wertende Eingriffe und Kommentare im Text verbietet und eine möglichst realistische Geschichte erzählen will. Ob die Geschichte wirklich so objektiv ist wie beabsichtigt, ist dabei fragwürdig. Vielmehr scheint es so, als ob Maupassant seine eigenen Kindheitserfahrungen sehr stark einfließen lassen hat. Seine Vater war genau wie Julien ein Trinker, der seine Frau regelmäßig betrogen hat. Sie ließen sich früh scheiden und Maupassant zog mit seiner Mutter fort und machte diese Erfahrungen immer wieder zum Thema seines Schaffens.
Insgesamt fehlt dem Roman ein auflockernder Ton. Satirische Kommentare oder starke Übertreibungen wie man sie von Flaubert oder Balzac kennt, hätten die Lektüre sicherlich um einiges erträglicher gemacht. Das ist sehr schade, da Maupassant offenkundig ein sehr guter Schriftsteller ist, und bereits mit wenigen klaren Worten die gewünschte Wirkung erzielen kann.
Nachträgliche Kürzungen ohne entsprechende Korrekturen
Im Anhang erfährt man, dass der Roman ursprünglich viel umfangreicher angelegt war. Für die Endfassung entschloss sich sich Maupassant die Handlung stark zu kürzen und viele Charaktere und Ereignisse zu stutzen oder heraus zu streichen. Das merkt man dem Roman leider an, an vielen Stellen wirkt der Roman unrund, nicht jede Kürzung wurde konsequent umgesetzt. Zudem wirkt die Handlung episodenhaft und macht große zeitliche Sprünge, die nicht immer nachvollziehbar sind.
Hochwertige Klassiker Ausgabe aus dem Mare Verlag
Die Ausgabe des Mare Verlages entspricht wie gewohnt dem gehobenen Klassiker Standard. Neben dem stabilen Schuber ist das Buch selbst in violetten Leinen gebunden, besitzt eine Fadenheftung, ein Leseband, dickes Papier und Prägungen sowie ein Bildmotiv auf dem Einband. Im Anhang finden sich hilfreiche Anmerkungen zum Text, ein verworfener Entwurf, einige Briefe und ein erhellendes Nachwort von Julian Barnes, einem Kenner der französischen Literatur.
Pro/Contra
Pro
- Maupassants Fähigkeiten als Schriftsteller sind unbestritten
- Wunderschöne Buchausstattung
Contra
- Protagonisten ohne Identifikationspotential
- Maupassants pessimistische Weltsicht macht die Lektüre zu einer anstrengenden Angelegenheit
Fazit
Ein Leben ist das lebensverneinende Werk eines Pessimisten. Maupassant kann man seine Qualitäten als Autor nicht absprechen, deswegen werde ich ihm noch eine Chance geben, aber diese grundsätzliche negative Weltsicht mit unsympathischen Charakteren und nicht konsequent umgesetzten Kürzungen lassen die Lektüre zu einem zweifelhaften Lesevergnügen werden.
autor: Guy de Maupassant
Titel: Ein Leben
Seiten: 383
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Mare Verlag
ISBN: 9783866481947
übersetzerin: Cornelia Hasting
illustrator: –