
Ungeheuer am Nordpol
von Charles Derennes
26.09.2025
- Klassiker
- ·
- Phantastik
Mit Ungeheuer am Nordpol (Le peuple du Pôle) von Charles Derennes liegt ein Klassiker der phantastischen Literatur endlich in einer deutschsprachigen Ausgabe vor. Doch hat sich die lange Wartezeit wirklich gelohnt?
Expedition zum Nordpol
Jean-Louis de Venasque entstammt einem alten Adelsgeschlecht, dessen Glanzzeiten bereits der Vergangenheit angehören. Seine Zeit verbringt er gelangweilt mit dem Verwalten des Familienvermögens, doch insgeheim plagt ihn das Fernweh. Eines Tages begegnet er seinem alten Schulkameraden Jacques Ceintras. Dieser ist zwar ein genialer Ingenieur, muss seinen Lebensunterhalt jedoch mit einfachen Auftragsarbeiten bestreiten.
Die beiden tun sich fortan zusammen und Ceintras entwirft einen fortschrittlichen Heißluftballon. Dieser ermöglicht ihnen, zum Nordpol zu reisen. Dort stoßen sie auf die Spuren einer nichtmenschlichen Zivilisation. Doch das soll nicht die größte Bedrohung für unsere beiden Reisenden darstellen …
Vielfältiger Schriftsteller
Charles Derennes (1882–1930) veröffentlichte im Laufe seines kurzen Lebens weit über fünfzig Werke. 1924 wurde er sogar mit dem begehrten Prix Femina ausgezeichnet. Beeindruckend ist vor allem die Vielfalt seines Schaffens. Berühmt wurde er für eine Reihe von aufsehenerregenden Naturgeschichten. Ferner veröffentlichte er Gedichtbände und war darüber hinaus für Zeitschriften und Magazine tätig. Zu seinem Werk gehören aber auch phantastische Werke wie der 1907 erschienene Band Ungeheuer am Nordpol. Doch was macht diesen Roman heute noch so lesenswert?
Wie der Übersetzer Dieter Meier in seinem Nachwort deutlich macht, erschien Ungeheuer am Nordpol an der Schnittstelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Menschheit begann gerade erst, den Luftraum zu erobern, und das Fliegen faszinierte und inspirierte die Menschen. Gleichzeitig veränderten viele Erfindungen das Leben nachhaltig. Parallel dazu machten sich Expeditionen auf, um die letzten blinden Flecke auf der Weltkarte zu beseitigen. Die Welt war offen für Abenteuer und fortschrittliche Gedanken.
Den Geist dieser Zeit atmeten die Werke großartiger phantastischer Autoren wie Jules Verne oder H. G. Wells. In jener Tradition steht auch der Roman von Charles Derennes.
Klassischer Abenteuerroman
In erster Linie handelt es sich um eine klassische Abenteuergeschichte: Unsere Protagonisten begeben sich auf eine längere Reise und überwinden währenddessen verschiedene Hindernisse. Angereichert wird die Handlung mit phantastischen Elementen und mit – mittlerweile natürlich überholten – wissenschaftlichen Erkenntnissen und visionären Technologien. Zur Zeit der Erstpublikation war beispielsweise nicht absehbar, dass sich Flugzeuge durchsetzen und Heißluftballons zur Randerscheinung degradiert werden.
Geschickter Spannungsaufbau
Auf der reinen Handlungsebene baut unser Autor die Geschichte in aller Ruhe auf. Wir verbringen zunächst viel Zeit mit der Vorbereitung der Reise. Auch am Nordpol angekommen lernen wir erst die Umgebung kennen. Geschickt streut der Autor Hinweise auf eine nichtmenschliche Spezies, erhöht Schritt für Schritt deren Schlagzahl und baut damit Spannung auf.
Die Geschichte nimmt nach dem Aufeinandertreffen von Menschen und Reptilien an Fahrt auf und erfährt mehrere interessante Wendungen. Besonders gelungen: Der eigentliche Kern – die Polarexpedition – ist in eine kleine Rahmenhandlung eingebunden. Der Autor nutzt am Ende den Epilog, um das Geschehen in einem vollkommen anderen Licht dastehen zu lassen. Damit rundet er das Lesevergnügen hervorragend ab und verleiht der Geschichte noch mehr Tiefe.
Besinnung auf die eigenen Stärken
Man muss Derennes zugutehalten, dass er seine Schwächen und Stärken genau kennt und mit ihnen umzugehen weiß. Natürlich nimmt die Begegnung mit den reptilienartigen Wesen einen nicht unbedeutenden Teil des Romans ein. Wir lernen (teilweise auch grausame) Elemente ihres Lebens und ihrer Kultur kennen.
Und gerne hätte ich hier mehr Zeit verbracht. Aber unser Autor wusste, dass er weder Zeit noch Raum hatte, um eine fiktive Kultur realistisch darzustellen. Deshalb bleibt die Begegnung nur eine – bedeutende – Episode innerhalb eines Abenteuerromans.
Natürlich thematisiert der Roman noch viel mehr: Zwischenmenschliche Beziehungen in Extremsituationen, Kommunikationsprobleme und deren Folgen finden genauso ihren Platz wie wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Fragen. Aber Derennes versucht glücklicherweise nicht, aus seinem Roman etwas zu machen, wozu letztlich die Substanz fehlen würde. Er mag zwar einen wissenschaftlich-phantastischen Abenteuerroman verfasst haben, aber der Fokus liegt eindeutig auf dem Abenteuer.
Zwischen Verne und Swift
Handwerklich merkt man dem Roman sein Alter an. Derennes Prosa zeichnet sich vorwiegend durch verschachtelte und endlos aneinandergereihte Nebensätze aus. Geübte Leser klassischer Literatur werden damit keine Probleme haben, Neueinsteiger müssen dies berücksichtigen. Im Zweifel gewöhnt man sich schnell daran.
Normalerweise führt ein solcher Stil dazu, dass der Autor weniger Möglichkeiten hat, das Lesetempo zu regulieren. In diesem Fall wirkt sich das nicht gravierend aus. Unser Autor baut sein Werk wie einen fiktiven Reisebericht auf und lehnt sich an Werke wie Gullivers Reisen an.
Solche Reiseberichte lassen ohnehin nur begrenzten Raum für dynamische Abschnitte. Die Spannung wird dann durch das Szenario und nicht durch den Satzbau erzeugt. Und das gelingt unserem Schriftsteller hervorragend.
Was bleibt?
Ungeheuer am Nordpol von Charles Derennes ist ein kleines Juwel der frühen phantastischen Literatur. Natürlich entspricht der Roman weder stilistisch noch inhaltlich den heutigen Erwartungen an einen Abenteuerroman. Die Abenteuerkomponente lehnt sich stark an Verne an, während handwerklich vieles an Gullivers Reisen erinnert.
Wer sich von heutigen Ansprüchen lösen kann, der wird mit einem Roman belohnt, der nicht nur aus historischen Gründen interessant ist. Wir finden eine interessante Mischung aus wissenschaftlichen, philosophischen und phantastischen Elementen vor. Die dennoch niemals vergisst, dass sie im Kern einfach nur ein guter Abenteuerroman sein sollte. Ein faszinierender Roman eines Autors, der sich vor Verne oder Wells nicht zu verstecken braucht. Lesenswert.
Angemessene Klassikerausgabe
Die mir vorliegende Ausgabe stammt aus dem Flur Verlag. Dabei handelt es sich um einen recht jungen Verlag, der sich schwerpunktmäßig mit (wiederentdeckten) Klassikern und phantastischen Werken der französischen Literatur beschäftigt.
Wir haben es mit einer fadengehefteten Klappbroschur zu tun. Eine Variante, die man nur selten antrifft und die sich positiv auf das Lesegefühl auswirkt. Im Vorsatz bzw. Nachsatz finden wir zwei Karten, im Inneren zusätzlich noch einige Schwarz-Weiß-Illustrationen. Im Anhang erwartet uns eine editorische Notiz. Die Übersetzung stammt von Dieter Meier. Dieser steuerte ebenfalls das informative und überaus lesenswerte Nachwort bei.
Pro/Contra
Pro
- Spannende Abenteuergeschichte
- Kennt seine Stärken und Schwächen
- Wiederentdeckter Klassiker der phantastischen Literatur
Contra
- Entspricht nicht mehr heutigen Erwartungen
Fazit
Charles Derennes Roman Ungeheuer am Nordpol ist ein kleines Juwel der frühen phantastischen Literatur. Lesenswert.
autor: Charles Derennes
Titel: Ungeheuer am Nordpol
Seiten: 256
Erscheinungsdatum: 1907
Verlag: Flur Verlag
ISBN: 9783989651036
Übersetzer: Dieter Meier
illustrator: –
Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt










Und ich dachte Reptilien mögen es warm! 🙂 Kleiner Scherz. Vielen Dank für die interessante Vorstellung.
Ich glaube, das fällt noch unter künstlerische Freiheit😅
[…] urteilt Eugen Tews auf seinem Blog „Bücherbriefe“: „Ungeheuer am Nordpol von Charles Derennes ist ein kleines Juwel der frühen phantastischen […]