Northanger Abbey
von Jane Austen
16.08.2024
- Klassiker
In ihrem 1817 posthum veröffentlichen Roman Northanger Abbey entführt uns Jane Austen nicht nur (wieder einmal) in die Welt der englischen Gentry, sondern parodiert gleichzeitig auch das ihrerzeit populäre Gothic-Novel-Genre. Kann das gut gehen?
Erste Flugversuche
Die 17-jährige Catherine Morland steht vor einem wichtigen Schritt in ihrem jungen Leben: Zum ersten Mal verlässt sie ihr ländliches Zuhause und ihre behagliche Großfamilie und verbringt einige Wochen im populären Badeort Bath.
Das Problem: Während ihre ganze Umgebung mit Bällen, Intrigen und Beziehungen beschäftigt ist, kreisen die Gedanken der jungen Catherine viel lieber um die neusten Schauerromane. Als sie dann noch in ein ehemaliges Kloster eingeladen wird, wird ihr Charakter auf die Probe gestellt: Gelingt es ihr, ihren eigenen Weg zu gehen oder hat sie die Unterhaltungsliteratur für immer verdorben?
Jahrzehntelange Publikationsgeschichte
Nachdem ich mich im vergangenen Jahr erstmals mit Jane Austen befasst habe und – ein Stück weit unerwartet – Gefallen an ihren Büchern gefunden habe, war es nur eine Frage der Zeit, bis ich mich erneut ihren Werken zuwenden sollte.
Northanger Abbey kann eine interessante und sehr lange Publikationsgeschichte vorweisen, die einigen unglücklichen Umständen zu verdanken ist. Austen verkaufte ihren Roman – damals noch unter dem Titel „Susan“ – erstmals im Jahre 1803 an den Verleger und Buchhändler Crosby. Aus mir nicht bekannten Gründen dachte der Verleger aber gar nicht an eine Veröffentlichung und behielt das Manuskript jahrelang in seiner Schublade.
Die Jahre vergingen und erst 1816 konnte einer von Austens Brüdern die Rechte zum ursprünglichen Preis zurückkaufen. Austen nahm noch einige Änderungen vor, starb aber Mitte 1817 noch vor der erstmaligen Veröffentlichung. Doch hat sich das jahrzehntelange Hin und Her gelohnt?
Einblick in das Leben der Gentry
Die Geschichte lässt sich dabei in zwei größere Abschnitte aufteilen, die sich – möglicherweise der Publikations- und Überarbeitungsgeschichte geschuldet – teilweise deutlich voneinander unterscheiden.
In der ersten Hälfte begleiten wir Catherine auf ihren ersten gesellschaftlichen Flugversuchen im Badeort Bath und müssen ihr dabei zusehen, wie sie sich durch allerlei Fallstricke hindurchnavigieren muss. Hier bekommen wir das zu lesen, was wir auf dem ersten Blick von einem Austen Roman erwarten.
Heiratswillige Frauen und Männer treffen aufeinander, tasten sich anhand eines komplizierten sozialen Regelwerks aneinander heran, suchen Verbündete, planen Intrigen und versuchen die beste Partie zu machen. Man sucht also entweder nach Schönheit oder Reichtum – am besten beides.
So rückständig dieser Fokus heutzutage auch erscheinen mag. so ist er mit Blick auf das damalige britische Rechtssystem schnell erklärt. Frauen konnten nicht erben und waren wirtschaftlich daher nur in den seltensten Fällen unabhängig. Ihre Zukunft hing in den meisten Fällen von der Wahl des richtigen Partners ab, sodass diese Themen nachvollziehbarer Weise viel Raum einnahmen.
Und tatsächlich ist das ganze Schaulaufen, Taktieren und Tratschen erstaunlich unterhaltsam, allerdings bei weitem nicht so interessant wie etwa in Stolz und Vorurteil. Dies liegt vor allem an Catherines Naivität und Versunkenheit – sie macht sich schlicht wenig Gedanken um ihre Zukunft. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie als ältester Spross einer Pfarrergroßfamilie mit bescheidenen finanziellen Mitteln nicht gerade auf Rosen gebettet war.
Parodie der Schauerliteratur
Wirklich interessant wird der Roman erst in der zweiten Hälfte. Die Handlung nimmt eine unterhaltsame Wendung, als Catherine von General Tilney auf den Familiensitz Northanger Abbey – ein ehemaliges Kloster – eingeladen wird. Hier vollzieht der Roman endgültig seine Wendung zur Parodie und verkehrt diverse Schauerroman-Elemente ins Lächerliche bis Unterhaltsame.
Die von Schauerromanen besessene Catherine vermutet hinter jeder Ecke ein Mysterium und erwartet in jeder Truhe auf ein düsteres Geheimnis zu stoßen – sie fantasiert sogar ein Mordkomplott herbei – und verursacht damit jede Menge genauso peinliche wie unterhaltsame Situationen und Missverständnisse.
Die Parodie findet dabei auf zwei Ebenen statt. Zum einen versteht sich der Roman als Parodie des Gothic-Novel-Genres an sich und spielt mit vielen bekannten Motiven und Elementen. Gleichzeitig finden wir auch zahllose literarische Anspielungen und Hinweise auf populäre Romane wie „Die Geheimnisse von Udolpho“ (The Mysteries of Udolpho) von Ann Radcliffe oder „Der Mönch“ von Matthew Gregory Lewis. Übrigens: Der wohl populärste Vertreter des Genres, „Frankenstein“ von Mary Shelley erschien 1818 kurz nach „Northanger Abbey“.
Zum anderen handelt es sich hierbei auch um eine Parodie der Wahrnehmung populärer Stoffe. An vielen Stellen erweist sich Austen als Verteidigern der Unterhaltungsliteratur und hält ihren Zeitgenossen den Spiegel vor. Unfreiwillige Aktualität erhält der Roman dadurch, dass im Grunde genommen jede populäre Entwicklung der letzten Jahre (Radio, Kino, Fernsehen, Internet, diverse Genres etc.) nach demselben Muster vom Elfenbeinturm heraus angegriffen wurde.
Scharfes Auge und spitze Zunge
Handwerklich handelt es sich wie so oft um einen Roman seiner Zeit: Wir bekommen es entgegen den heutigen Lesegewohnheiten mit langen Sätzen zu tun und mehr als einmal wird Nebensatz an Nebensatz gereiht. Glücklicherweise verzichtet die Autorin dabei auf ausufernde Beschreibungen von Nichtigkeiten oder eine geschwollene Ausdrucksweise. Im Gegenteil – Austen nutzt eine klare und prägnante Sprache, sodass sich auch heutige Leser schnell in ihren Romanen zurechtfinden dürften.
Lobte ich Austen bereits an anderer Stelle für ihr scharfes Auge und ihre spitze Zunge, so liegt all dies in Northanger Abbey in noch viel stärkerer Ausprägung vor. Sie erzählt die Geschichte aus der Perspektive einer allwissenden Erzählerin, die mit kritischen und ironischen Kommentaren das Geschehen begleitet und sich stellenweise direkt an uns Leser wendet. Dabei ist niemand vor ihr sicher – weder der oberflächliche englische Adel noch verträumte Bücherjunkies bleiben von ihr verschont.
Überhaupt scheint Humor in diesem Roman eine tragende Rolle zu spielen. So finden wir hier zahllose herrliche Dialoge vor, man denke nur an die Gespräche zwischen Catherine und Henry oder wie Mrs. Allen und Mrs. Thorpe permanent aneinander vorbeireden.
Hauptfigur mit interessanter Entwicklung
Wenden wir uns den Charakteren zu, so muss (natürlich) in erster Linie die Hauptfigur Catherine Morland erwähnt werden. Bei ihr handelt es sich um eine alles andere als typische Hauptfigur: Sie ist weder arm noch reich, weder hässlich noch hübsch, weder talentiert noch talentlos und charakterlich weder gut noch schlecht – erstaunlich grau und durchschnittlich also.
Wirklich hervorstechend ist allenfalls ihre Vorliebe für Romane und oft ist sie einfach in Gedanken versunken und nimmt ihre Umgebung gar nicht wahr. In einem Umfeld wie Bath würde dies normalerweise den gesellschaftlichen Tod bedeuten, wenn sie nicht Unterstützung von zahlreichen Seiten erfahren würde. Herrlich zu Lesen sind die Szenen, in denen sie als einzige nicht mitbekommt, was um sie herum passiert, etwa potentielle Schwärmereien oder auch die sich anbahnende Verlobung ihres Bruders.
Dafür mach sie aber eine wirklich schön zu erlesende Entwicklung durch und wandelt sich vom naiven Mauerblümchen zu einer selbstbewussten jungen Frau, die auch für sich selbst einstehen kann und zumindest zeitweise mal über den Buchdeckel hinauszuschauen vermag.
Daneben bereichern eine Reihe von interessanten Nebenfiguren die Welt dieses Romans. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um typische Austen-Nebenfiguren: Interessant, unterhaltsam und (im positiven Sinne) leicht überzogen, aber wirkliche Tiefe darf man nicht erwarten. Allerdings liegt der Fokus noch deutlich mehr als in anderen Austen-Romanen auf der Hauptfigur selbst und nicht auf Henry Tilney, die Allens oder Isabella und John Thorpe.
Was bleibt?
Northanger Abbey von Jane Austen lässt mich anders als bei meinen bisherigen Austen-Lektüren zwiegespalten zurück. Einerseits merkt man dem Roman die jahrzehntelangen Überarbeitungsphasen teilweise an. Einige Elemente wollen nicht nahtlos ineinandergreifen und bestimmten Abschnitten merkt man rein stilistisch schon unterschiedliche Fertigungsphasen an.
Andererseits bekommen wir hier doch alles, was wir an Austen lieben: Eine sympathische Hauptfigur mit einer nachvollziehbaren und interessanten Entwicklung, ein Sammelsurium an weiteren interessanten Nebenfiguren, eine scharfzüngige Erzählerin, viel Gesellschaftskritik und natürlich auch viel Humor.
Der nicht ganz so intensive erste Teil wird dabei durch die hervorragenden Satire-Abschnitte (vor allem in der zweiten Hälfte) mehr als nur wieder ausgeglichen. Austen-Fans können also bedenkenlos zugreifen, Einsteiger sollten hingegen einen anderen Roman wählen.
Illustrierte Schmuckausgabe
Auch diese großformatige Schmuckausgabe aus dem Coppenrath Verlag reiht sich nahtlos in die bisherigen Bände ein. Neben der obligatorischen Fadenheftung und einem Leseband sind – für die meisten Käufer – vor allem die zahlreichen stimmungsvollen Extras zwischen den Seiten ein Kaufargument. Ich bleibe dabei – ich bin kein Fan, aber den Reiz kann ich schon nachvollziehen.
Nicht unterschlagen möchte ich weiterhin die vielen wunderschönen Illustrationen von Marjolein Bastin. Die Übersetzerin Christiane Agricola fügte dem Band nicht nur einen hilfreichen Anmerkungsapparat hinzu, sondern steuerte darüber hinaus noch ein lesenswertes Nachwort bei.
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Pro/Contra
Pro
- Lebendiges und skurriles Figurenensemble
- Scharfzüngige Erzählerin
- Klare Prosa
Contra
- Unterschiedliche Bearbeitungsphasen machen sich stellenweise bemerkbar
- Stellenweise überzeichnet
Fazit
Northanger Abbey von Jane Austen vereint klassische Austen-Elemente mit sehr unterhaltsamen Parodie-Aspekten. Kein Werk für Neueinsteiger, aber dennoch mehr als nur lesenswert!
autorin: Jane Austen
Titel: Northanger Abbey
Seiten: 223
Erscheinungsdatum: 1817
Verlag: Coppenrath Verlag
ISBN: 9783649641124
übersetzerin: Christiane Agricola
illustratorin: Marjolein Bastin
[…] Northanger Abbey … hat Eugen gelesen und alle Facetten von Austens Roman besprochen. […]
„Austen-Fans können also bedenkenlos zugreifen, Einsteiger sollten hingegen einen anderen Roman wählen.“ – deine Einschätzung teile ich 😉 Habe das mit sehr ähnlichen Gefühlen gelesen.
Danke für die Verlinkung!
Und welcher von Austen ist als nächster dran!?
Das freut mich! Deine Rezension beleuchtet auch noch stärker die feministischen Seiten Aspekte des Romans, die bei mir ein wenig untergehen 🙂
Ich habe hier noch Emma und Mansfield Park herumstehen und werde da wohl nach Bauchgefühl entscheiden. Ursprünglich war Emma noch vor Northanger Abbey geplant, aber „leider“ habe ich mir zwischendurch die neuste Emma-Verfilmung angesehen – da muss ich also noch etwas Gras über die Sache wachsen lassen.
Hallo Eugen,
danke für Deine Rezension. Ich habe eine Frage zu den von dir gezeigten Abbildungen. Es sieht teilweise so aus, als würde im Innenteil bei den abbgebildeten Seiten jeweils die Rückseite (Text und Bild) stark durchscheinen. Das würde ich ja ganz fürchterlich finden. Ist das bei allen dir bekannten Schmuckausgaben von Coppenrath so?
Hallo Jean Fritz,
Die Coppenrath-Ausgaben haben ein ganz normales Papier, vielleicht sogar ein Stück weit dicker als üblich. Es kann dabei durchaus sein, dass vereinzelt (bunte) Illustrationen (leicht) durchscheinen – aber das hält sich (meiner Meinung nach) in den Grenzen des Zumutbaren.
Dass der Text und die Illustrationen auf den Bildern so stark durchscheinen, liegt vor allem an meiner Bildbearbeitung. Ich mache die Bilder insgesamt etwas dunkler und erhöhe den Kontrast, sodass dieser Effekt bei Textseiten auftreten kann. Ich schaue mal, ob ich etwas an den Einstellungen drehen kann, aber ganz werde ich den Effekt wohl nicht vermeiden können!