Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten
von Herman Melville
23.04.2021
- Klassiker
Nur ein Jahr nach Moby Dick veröffentlichte Herman Melville mit Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten seinen wohl umstrittensten Roman. Dieser brachte seinen kommerziellen Erfolg völlig zum Erliegen und ließ ihn für lange Zeit in die Bedeutungslosigkeit versinken.
Eine verzwickte Dreiecksbeziehung
Dabei beginnt die Handlung recht harmlos. Pierre Glenndenning ist ein junger, hoffnungsvoller Mann aus vornehmen Hause, der nach dem Tod seines Vaters ein ungewöhnlich enges Verhältnis zu seiner Mutter entwickelt hat, sie nennen sich gegenseitig sogar Bruder und Schwester. Seine Hochzeit mit der Lucy Tartan, ebenfalls der Oberschicht zugehörig, steht kurz bevor, doch diese Idylle wird mit dem Auftauchen der schönen Isabel zerstört.
Diese gibt sich als uneheliche Tochter seines Vaters aus und bedroht so das Ansehen seines Vaters. Um das zu vermeiden, gibt er Isabel als seine Frau aus und flieht mit ihr nach New York. Dort leben sie in ärmlichen Verhältnissen während Pierre sich an seinen Durchbruch als Schriftsteller versucht. Als Lucy beschließt ihnen zu folgen, nimmt die ganze Situation ungeahnte Ausmaße an.
Pierre beendete Melvilles kommerziellen Erfolg
Als 1852 Pierre erschien, bedeutete dies einen Bruch mit Melvilles bisherigen Veröffentlichungen. Bis dahin war er als Autor von Seefahrer Romanen bekannt, die zumindest zum Teil auf seinen eigenen Erfahrungen beruhten, doch dieses Werk spielt ausschließlich an Land. Seine Werke waren niemals Kritiker Lieblinge, insbesondere das im Vorjahr erschienene Moby Dick wurde stark kritisiert, doch Pierre beendete mit einem Schlag seine Karriere.
Das Werk wurde von allen Seiten angegriffen, sogar seine geistige Zurechnungsfähigkeit wurde angezweifelt. Die schlechte Kritik wurde nur von den noch schlechteren Verkaufszahlen übertroffen, bis auf ein paar kleinere Bände in niedrigen Auflagen erschien bis zu seinem Tod keine großen Werke mehr von ihm und fast geriet er in Vergessenheit, ehe das Interesse an seinen Werken in den 1920ern neu erwachte.
Ein wirres Buch
Pierre ist ein Buch ohne Konzept, dem ganzen Roman fehlt eine klare Linie. Das Buch sprießt nur von verschachtelten Sätzen und Wiederholungen über Wiederholungen über Wiederholungen. Der Stil scheint zumindest im ersten Drittel satirisch überspitzt, doch im weiteren Verlauf verliert der Autor sich in eigenen Überlegungen zu diversen Themen, die allerdings zusammenhangslos in den Raum geschmissen werden.
Schon in Moby Dick gab es diese Abhandlungen, doch dort beschränkten sie sich zumindest im weitesten Sinne auf das Thema Meeressäuger und wurden von der eigentlichen Handlung getrennt. Diese bot im Gegensatz zu Pierre auch Spannung und war eine Art Entschädigung war für anstrengendere Kapitel.
Weder Handlung noch Charaktere können überzeugen
Die Handlung wirkt stark konstruiert und an keiner Stelle glaubwürdig. Pierres Kurzschlussreaktion, mit Isabel zusammen in die Stadt zu fliehen und sie vor seiner Mutter mit keinem Wort zu erwähnen wird nicht nachvollziehbar dargestellt. Auch das Isabel eigentlich keine Beweise für ihre Verwandtschaft liefert, scheint Pierre erst am Ende der Romanhandlung aufzufallen. Und Pierre im letzten Drittel aus dem Nichts heraus zum bereits erfolgreichen Schriftsteller zu machen setzt dem ganzen nur noch die Krone auf.
Auch die anderen Charaktere überhaupt sind völlig überzogen. Im ersten Drittel hat man noch das Gefühl eine Satire zu lesen, im weiteren Verlauf bleibt keine Tat der Protagonisten nachvollziehbar, oft muss der Leser beide Augen zudrücken, um dem Autor die weiteren Geschehnisse durchgehen zu lassen. Weder Pierre, noch Isabel oder Lucy wecken Sympathien, die geschwollenen Monologe und Dialoge bringen die Handlung nicht wirklich voran, sondern dienen nur dazu die Gedanken Melvilles über kürzlich angelesenes in den Text zu transportieren.
Nur für Melville Fanatiker
Dieses Buch kann weder durch guten, noch außergewöhnlichen Schreibstil begeistern, besitzt keine nachvollziehbare Handlung, nur überzeichnete Charaktere und selten mehr als zwei sinnvoll zusammenhängende Sätze. Die wirr formulierten Gedanken und einige Parallelen zu Melvilles Leben lassen das Buch einzig für die Melville Forschung interessant wirken, ich erspare mir an dieser Stelle jede weitere Deutung. Pierre zu lesen ist verschwendete Lebenszeit, weit hergeholte Interpretationen machen die Lektüre allenfalls für Mellville Fanatiker zu einer Fundgrube.
Hochwertige Klassiker Ausgabe
Auch wenn der Inhalt nicht zu überzeugen weiß, so bietet immerhin die Hanser Ausgabe die gewohnte Qualität. Der Leineneinband mit Titelschild und Silberprägung, die Fadenheftung, das Dünndruckpapier und ein Lesebändchen lassen keine Wünsche übrig.
Meine Ausgabe stammt aus dem Jahre 2002 und ist seitdem kaum sichtbar gealtert – so eine Qualität wünsche ich mir bei jedem Buch. Auch die umfangreichen Anmerkungen helfen beim Verständnis des Werkes und das Nachwort von Hans Joachim Lang verschafft dem Leser einen Überblick über die Rezeption des Werkes im Laufe der letzten Jahrzehnte und liefert zudem eigene und fremde Interpretationsansätze.
Pro/Contra
Pro
- Umfangreicher Anhang
Contra
- Wirre Formulierungen
- Überzogene und unrealistische Charaktere
- Fehlender Plot
Fazit
Pierre ist ein oft diskutierter und auf verschiedenste Arten interpretierter Roman, der sicherlich seine Anhänger hat, in meinen Augen aber völlig zurecht seit dem Erscheinen verrissen wird. Pierre ist nur etwas für hartgesottene Melville Anhänger, alle anderen sollten die Finger von dem Buch lassen.
autor: Herman Melville
Titel: Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten
Seiten: 738
Erscheinungsdatum: 1852
Verlag: Hanser Verlag
ISBN: 9783446171215
übersetzerin: Christa Schuenke
illustrator: –
Reihe: Hanser Klassiker