Jean Sbogar
von Charles Nodier
06.12.2024
- Klassiker
Charles Nodier gelang 1818 mit dem Räuberroman Jean Sbogar der literarische Durchbruch und ein großer kommerzieller Erfolg. Von diesem Ruhm ist vor allem hierzulande nicht mehr viel übrig geblieben. Nun liegt eine Neuauflage im Flur Verlag vor, die dies ändern möchte. Mit Erfolg?
Räuber und Wohltäter
Die vermögende Witwe Alberti lebt mit der siebzehnjährigen Antonia zurückgezogen in Triest. In aller Abgeschiedenheit versuchen sie ihre frisch erlittenen Wunden – Antonia ist Vollwaise, Frau Alberti hat erst kürzlich ihren Mann verloren – zu heilen. Als wäre dies alleine nicht schwer genug, terrorisiert eine Räuberbande um den Schurken Jean Sbogar die Stadt und ihre nähere Umgebung.
Nach einigen abenteuerlichen Ereignissen zieht es die beiden Frauen schließlich nach Venedig. Dort verliebt sich Antonia in den mysteriösen Lothario. Dieser vertritt zwar einige provokante politische Ansichten, ist aber als Wohltäter ein gern gesehener Gast in allen Gesellschaftsschichten. Doch Lothario führt ein Doppelleben, das auch Antonia in den Abgrund reißen könnte …
Zu Unrecht verschollen
Wenn es um französische Klassiker geht, dann kommen zeitgenössischen Lesern sicherlich zahlreiche Namen in den Sinn – Charles Nodier wird nur in den wenigsten Fällen dazuzählen. Doch warum eigentlich?
Charles Nodier wurde 1780 als Sohn eines Richters geboren, veröffentlichte bereits in jungen Jahren provokante Schriften gegen Napoleon und blieb alleine dank des Einflusses mächtiger Freunde vor allzu harten Strafen verschont – dabei soll Napoleon Jahre später Jean Sbogar auf Sankt Helena in nur einer Nacht verschlungen haben.
Seinen literarischen Durchbruch feierte er 1818 mit dem Räuberroman Jean Sbogar, der innerhalb kürzester Zeit mehrere Neuauflagen nach sich zog. Daneben betätigte er sich auch als Kritiker und förderte die Arbeit von jüngeren Kollegen wie etwa Victor Hugo oder Alexandre Dumas. Rückblickend gilt er als Mitbegründer der französischen Romantik und Wegbereiter der phantastischen Literatur in Frankreich. An seinem reinen Schaffen kann sein Verblassen also nicht liegen – liegt es möglicherweise an seinen schriftstellerischen Qualitäten?
Klassischer Räuberroman
Charles Nodier traf mit seiner Erzählung sicherlich den Zeitgeist. Damals wie heute scheint das Publikum von Räubergeschichten fasziniert zu sein. Neben dem allgegenwärtigen Robin Hood feierten Friedrich Schiller, Carl Zuckmayer oder auch Heinrich Zschokke (um nur wenige Beispiele zu nennen) mit ihren eigenen Räubergeschichten große (kommerzielle) Erfolge.
Kein Wunder, was könnte schließlich leichter polarisieren und damit begeistern als ein Haufen wilder und gleichzeitig edler Außenseiter, die soziale Missstände nicht nur anprangern, sondern auch handfest beseitigen können? Dem konnte sich nicht einmal ein Nodier entziehen, der zeit seines Lebens überzeugter Royalist blieb.
Die Mischung überzeugt
Die Handlung weiß in erster Linie durch das Zusammenspiel der einzelnen Elemente (Liebes-, Abenteuer- und Schauergeschichte) zu überzeugen. So verläuft die Liebesgeschichte genau so, wie man es von einer Liebesgeschichte dieser Zeit auch erwarten darf. Die grundsätzlich gut konstruierte Abenteuergeschichte leidet ein wenig darunter, dass der Autor immer dann wegschaltet, wenn es spannend wird.
Das hat sicherlich mal den Hintergrund gehabt, den Leser möglichst lange über die Identität von Lothario und Jean Sbogar im Unklaren zu lassen – die heutige Leserin weiß aber bereits zu Beginn, aus welcher Richtung der Wind weht. Immerhin tröstet uns das Ende mit einigen stilechten Schauerliteratur-Elementen darüber hinweg, auch wenn diese nur einen kleinen Teil der gesamten Handlung ausmachen.
Sprachlich ein Kind seiner Zeit
In handwerklicher Hinsicht handelt es sich um ein Produkt seiner Zeit. Neben einem auktorialen Erzähler und einer bildhaften Sprache stechen insbesondere die recht langen Satzkonstruktionen hervor, bei denen sich an Nebensatz an den nächsten hängt, ohne ein, wie auch immer geartetes, Ende zu finden.
Entscheidende Elemente eines Satzes werden dabei wild verteilt und grundsätzlich erschließt sich der Inhalt erst ganz am Ende, sodass eine gewisse Aufmerksamkeitsspanne nötig ist, um diesen Roman wertschätzen zu können.
Daneben finden wir immer wieder Anspielungen auf die griechische Mythologie, die der heutigen Leserschaft nicht zwangsläufig geläufig sein dürften – hier wäre ein kleiner Anmerkungsapparat vielleicht nicht zwingend, aber wünschenswert gewesen.
Den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind Zitate anderer Autoren, wobei es Nodier mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm: so manches Zitat wurde von ihm äußerst frei übersetzt, das eine oder andere sogar frei erfunden.
Was bleibt?
Jean Sbogar von Charles Nodier stellt einen äußerst unterhaltsamen Räuberroman dar, der Liebes-, Abenteuer- und Schauerelemente zu einem stimmungsvollen Gesamtwerk verbindet. Eine erfreuliche Wiederentdeckung, die den Leser mit einigen vergnüglichen Stunden belohnt – sofern man sich auf den (aus heutiger Sicht) sperrigen Stil einlassen kann.
Stimmige Neuausgabe
Die mir vorliegende Ausgabe ist im Flur Verlag erschienen, einem noch recht jungen Verlag, der sich einer vielversprechenden Mischung aus Klassikern und phantastischer Literatur verschrieben hat. Freuen dürfen wir uns über einen stabilen Pappeinband und – in dieser Preisklasse nicht selbstverständlich – sogar über eine Fadenheftung, die über das fehlende Leseband hinwegtröstet.
Im Inneren finden wir eine Reihe von stimmigen Illustrationen von Ludek Marold, Georges Picard und Mittis, die bereits seit 1894 Jean-Sbogar Ausgaben verzieren. Dem Roman vorangestellt ist ein unterhaltsames Vorwort des Autors aus dem Jahre 1832, das völlig im Einklang mit seinem Lebenslauf steht.
Die Übersetzung beruht auf der Arbeit von August von Hogguer (1835), die von Johannes Mumbauer (1914) und Verlegerin Alexandra Beilharz (2024) überarbeitet wurde. Letztere passte den Roman vor allem sprachlich an unsere Zeit an und übersetzte ehemals übergangene Abschnitte, so fehlte bislang unter anderem das gesamte Kapitel 13 („Lotharios Aufzeichnungen“).
Pro/Contra
Pro
- Klassischer Räuberroman mit Abenteuer-, Liebes- und Schauerelementen
- Wiederentdeckung eines zu Unrecht vergessenen Klassikers
- Stimmige Neuausgabe
Contra
- Lange Satzkonstruktionen, die nicht mehr den heutigen Lesegewohnheiten entsprechen
Fazit
Jean Sbogar von Charles Nodier stellt eine äußerst gelungene Wiederentdeckung eines unterhaltsamen Räuberromans dar. Eine womöglich herausfordernde, aber lohnenswerte Lektüre.
autor: Charles Nodier
Titel: Jean Sbogar
Seiten: 248
Erscheinungsdatum: 2024 (1818)
Verlag: Flur Verlag
ISBN: 9783989651012
übersetzerIn: –
illustrator: –
Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt
[…] „Jean Sbogar von Charles Nodier stellt einen äußerst unterhaltsamen Räuberroman dar, der Liebes-, Abenteuer- und Schauerelemente zu einem stimmungsvollen Gesamtwerk verbindet. Eine erfreuliche Wiederentdeckung, die den Leser mit einigen vergnüglichen Stunden belohnt – sofern man sich auf den (aus heutiger Sicht) sperrigen Stil einlassen kann.“ – Eugen Tews, Bücherbriefe […]