
Verlorene Illusionen
von Honoré de Balzac
20.12.2025
- Klassiker
Verlorene Illusionen zählt zu Honoré de Balzacs wichtigsten und bekanntesten Werken. Doch was macht diesen Roman heute noch relevant?
Aufstieg und Fall
Der junge Lucien Chardon lebt als Sohn eines verstorbenen Apothekers und einer ehemaligen Adligen in der Provinzstadt Angoulême. Seine Schönheit und sein literarisches Talent rücken ihn ins Blickfeld der gelangweilten Provinzadligen Bargeton, die ihn in die höheren Kreise einführt.
Ein Skandal zwingt beide schließlich zur Flucht nach Paris. Dort muss Lucien feststellen, dass seine künstlerischen Ideale wenig mit der Realität zu tun haben. In seiner Verzweiflung wird er Journalist und verliert sich zwischen Intrigen, Missgunst und falschen Freunden.
Währenddessen übernimmt sein Jugendfreund David Séchard die alte Druckerei seines Vaters. Sein Ziel ist es, die Papierproduktion in Frankreich zu revolutionieren. Doch er gerät in den Fokus geldgieriger Unternehmer …
Höhepunkt der menschlichen Komödie
„Verlorene Illusionen“ (Illusions perdues) erschien ursprünglich zwischen 1837 und 1843 in drei separaten Veröffentlichungen, die Balzac 1843 zu einem Band zusammenschusterte. Dies erklärt auch, warum es sich um den umfangreichsten Band der menschlichen Komödie handelt.
Balzac versuchte in dieser 91 Titel umfassenden Reihe – geplant waren deutlich mehr – die französische Gesellschaft in all ihren Facetten abzubilden. Sie besteht aus vielen Einzelwerken, die vor allem durch eine Reihe von Figuren miteinander verbunden sind. „Verlorene Illusionen“ zählt zu den Szenen aus dem Provinzleben und ist zeitlich im Frankreich der Restauration nach 1819 angesiedelt.
Unser Schriftsteller konnte beim Schreiben auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Jahre zuvor versuchte er sich vergeblich als Drucker in Paris und scheiterte mehrfach als Zeitungsverleger. Doch was macht den Roman heute noch so interessant?
Zeitloser Stoff
Eines vorweg: „Verlorene Illusionen“ besitzt unglaublich viele Facetten. Das vollständige Ansprechen aller Aspekte übersteigt jedoch den sinnvollen Umfang einer Rezension. Deswegen werde ich mich auf die wichtigsten Punkte beschränken.
Zum einen handelt es sich um eine zeitlose Geschichte, die Stoff vieler großer Romane ist: Aufstieg und Fall hoffnungsvoller junger Menschen. Zudem trifft man in der Literatur nur selten ein so breit gezeichnetes Bild vieler gesellschaftlicher Schichten an. Von einfachen Prostituierten bis zu höchsten Adligen finden alle ihren Platz. Das Ausmaß aller Figuren und ihrer Verflechtungen ist einfach nur beeindruckend.
Medien am Pranger
Herzstück des Romans ist die Medienkritik – zu dieser Zeit gleichbedeutend mit der Presse- und Verlagskritik. Die Bedeutung und Verbreitung der Medien nahmen dank des technischen Fortschritts – von unserem Autor ausführlich dargestellt – gewaltige Ausmaße an. Dies führte letztlich dazu, dass der Journalismus auch oder vor allem aus Profitstreben heraus betrieben wurde. Von hohen Idealen ist jedenfalls in diesem Werk wenig zu sehen.
Seine Schilderungen sind ebenso hart wie unterhaltsam. Vom einfachen Theaterkritiker, über Autoren und Verleger bis hin zum Publikum spart Balzac niemanden aus. Der Tonfall schwankt zwischen Satire und Tatsachenbericht – beides wäre ohne Weiteres vorstellbar. Parallelen zur heutigen Zeit lassen sich – wenn auch nicht 1:1 – durchaus ziehen. Und das zentrale Motiv der verlorenen Illusionen bedarf ohnehin keiner weiteren Erläuterung.
Bandwurmsätze ohne Ende
Wie so oft bedient sich unser Autor eines auktorialen Erzählers, der mit spitzer Zunge das Geschehen kommentiert. Zwischendurch finden wir Ansätze eines unzuverlässigen Erzählers. So wissen wir etwa bei Lucien nie, ob seine Aussagen nun der Wahrheit entsprechen oder nicht.
Typisch für Balzac: Er neigt dazu, sich in seinen Sätzen zu verlieren und erschafft wahre Satzmonster. Die Übersetzerin Melanie Walz drückt es treffend aus, wenn sie sagt, dass innerhalb eines Satzes mehrere Untergedanken folgen, die wiederum mehrere neue Untergedanken aufweisen.
Trotzdem immer am Steuer
Hin und wieder übertreibt er. Wechselrechnungen scheinen einen wunden Punkt bei ihm zu treffen. Und bei weitem nicht jedes Bild gelingt ihm. Doch erstaunlich oft funktionieren seine blumigen und ausschweifenden Ausführungen hervorragend.
Zum einen, weil sie später doch zum Verständnis der Handlung beitragen oder dabei helfen, das gesellschaftliche Portrait auszuschmücken. Zum anderen, weil er niemals die Kontrolle über seine Sätze, und insbesondere über das Erzähltempo, verliert. Trotz der allgegenwärtigen Bandwurmsätze kann er das Tempo wahnsinnig anziehen, wenn sich Lucien in seinem Rausch verliert, und es ebenso verlangsamen, wenn David nur behäbig vorankommt.
Zwischen Entzücken und Entsetzen
Lucien stellt eine ebenso unterhaltsame wie herausfordernde Hauptfigur dar. Eine gefährliche Mischung aus Naivität, Arroganz und Talent macht ihn zum idealen Spielball und Opfer verschiedener Kräfte. Als Leser schwanken wir permanent zwischen Entzücken und Entsetzen. Man kann von dieser Figur halten, was man will, langweilig ist er sicherlich nicht.
An guten Menschen (etwa Daniel d´Arthez oder David Séchard) scheint Balzac nicht sonderlich interessiert gewesen zu sein. Sie geraten bisweilen zu eindimensional. Die Darstellung der dunkleren Figuren ist hingegen meist brillant. Es ist ein wahres Vergnügen, sie bei ihren Intrigen und Machenschaften zu begleiten. Auch dürfen wir uns über ein Wiedersehen mit bekannten Figuren aus Vater Goriot freuen: Rastignac und Vautrin spielen eine nicht unbedeutende Rolle im Laufe des Geschehens.
Was bleibt?
Verlorene Illusionen von Honoré de Balzac ist ein fabelhafter und umwerfender Roman. Thematisch ist er zeitlos aktuell und zugleich das plastische Portrait der französischen Gesellschaft nach der Restauration. Die zahlreichen lebendigen Figuren wecken unser Interesse und lassen uns pausenlos mitfiebern.
Die Handlung fesselt mit all ihren Abzweigungen und Verästelungen. Dabei muss man zugegebenermaßen offen sein für Balzacs ausschweifenden Stil. Doch wenn man sich darauf einlässt, dann erwarten die geneigte Leserin unterhaltsame Lesestunden. Ein Meisterwerk.
So muss ein Klassiker aussehen
Wie jede Klassiker-Neuübersetzung aus dem Hanser Verlag hat auch diese Ausgabe ihren Preis. Dafür genügt sie höchsten bibliophilen Ansprüchen. Neben der obligatorischen Fadenheftung, dem weinroten Leineneinband samt Titelschild und Silberprägung dürfen wir uns über bedruckten Vorsatz bzw. Nachsatz und zwei Lesebänder freuen. Das Dünndruckpapier macht das Buch trotz seines gewaltigen Umfangs zu einem leichtfüßigen Begleiter in allen Lebenslagen.
Der Anhang des Buches ist gewaltig und eine Freude für alle Leser, die sich mit diesem Werk auseinandersetzen wollen. Das ausführliche und überaus lesenswerte Nachwort ergänzen eine Zeittafel und ein Glossar. Daneben unterstützt uns ein umfangreicher Anmerkungsapparat. Vor der Übersetzerin Melanie Walz kann man nur den Hut ziehen.
Pro/Contra
Pro
- Ausschweifender Erzählstil
- Zeitlos aktuell
- Meisterhafte Gesellschaftsstudie
- Brillantes Figurenensemble
Contra
- Ausschweifender Erzählstil
Fazit
Verlorene Illusionen von Honoré de Balzac ist ein Meisterwerk.
autor: Honoré de Balzac
Titel: Verlorene Illusionen
Seiten: 960
Erscheinungsdatum: 1837 – 1843
Verlag: Hanser Verlag
ISBN: 9783446246140
Übersetzerin: Melanie Walz
illustrator: –
Reihe: Hanser Klassiker









