Auf einer Holzoberfläche liegt ein Buch mit dem Titel „Die gelbe Tapete & Herland“ von Charlotte Perkins Gilman, mit einem gelb-violetten Einband, der ein Blumenmuster und eine weibliche Silhouette zeigt.

Die gelbe Tapete & Herland

von Charlotte Perkins Gilman


04.08.2023

  • Horror
  • ·
  • Klassiker
  • ·
  • Science-Fiction

Mit Die gelbe Tapete und Herland von Charlotte Perkins Gilman liegen zwei frühe Klassiker der feministischen Literatur in gebündelter Form vor. Doch wie bedeutsam sind diese Erzählungen heute noch?

Zwei Klassiker der feministischen Literatur

Die Sammlung beginnt mit der kurzen Schauergeschichte Die gelbe Tapete (1892): Eine junge Frau erleidet nach der Geburt ihres ersten Kindes eine „Nervenkrankheit“. Ihr Mann, seines Zeichens Arzt, verordnet ihr daraufhin Ruhe und verbietet jegliche körperliche oder geistige Anstrengung. Zu diesem Zwecke ziehen sie in ein abgelegenes Sommerhaus.

Die junge Frau muss sich vornehmlich in einem ehemaligen Kinderzimmer aufhalten, das neben einem vergitterten Fenster eine reizvolle gelbe Tapete zu bieten hat. Widert sie die vergammelte Tapete anfangs noch an, so entwickeln die unheimlichen Muster schon bald eine Sogwirkung, der sie sich nur schwerlich entziehen kann…

Die utopische Novelle Herland (1915) schlägt eine andere Richtung ein. Eine Gruppe von jungen Abenteurern macht auf einer Forschungsreise eine sensationelle Entdeckung. Sie stoßen auf Herland: einen vom Rest der Welt völlig abgeschnittenen Landstrich, der seit Jahrtausenden ausschließlich von Frauen bevölkert wird. Wird es ihnen gelingen, als Männer in einer von Frauen dominierten Kultur zu bestehen?

Eine unterschätzte Frau

Die 1860 in Amerika geborene Charlotte Perkins Gilman wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und schloss die Schule ohne Abschluss ab. Sie schöpfte ihr Wissen – wie so viele große Literaten der damaligen Zeit – vornehmlich aus öffentlichen Bibliotheken. Ihr Vater verließ die Familie in frühen Jahren, was in ihr den Wunsch nach Kontrolle und Unabhängigkeit nachhaltig einprägte.

Eine nach der Geburt ihres ersten Kindes erlittene Depression brachte sie zum Schreiben. So stammt aus dieser Zeit unter anderem die Geschichte Die gelbe Tapete. Bereits nach wenigen Jahren Ehe ließ sie sich scheiden – ein zu ihrer Zeit aufsehenerregender Schritt. Und widmete ihr Leben fortan der Frauenbewegung. Es dauerte nicht lange, bis sie sich einen Namen als Rednerin und Journalistin machte.

Mit The Forerunner gab sie sogar ein eigenes Magazin heraus. Ihre belletristischen und wissenschaftlichen Werke machten sie binnen kürzester Zeit zu einer Ikone der Frauenbewegung. 1935 wählte sie angesichts einer sich ausbreitenden Brustkrebserkrankung den Freitod. Und behielt damit bis zum Schluss die Kontrolle über ihr Schicksal.

Klassische Schauergeschichte

Bei der ersten Geschichte Die gelbe Tapete handelt es sich um eine klassische Schauergeschichte. Unabhängig vom feministischen Hintergrund überzeugt die handwerklich gut gemachte Erzählung insbesondere durch eine beklemmende Atmosphäre.

In Form von Tagebucheinträgen verfolgen wir gebannt, wie unsere Protagonistin nach und nach dem Wahnsinn verfällt. Geschickt steigert Gilman die Spannung von Eintrag zu Eintrag, bis die Geschichte in einem fulminanten Finale endet. Auch wenn das Ende nur wenige überraschen dürfte, so fesselt die kompakte Erzählweise die Leserschaft bis zur letzten Seite.

Basierend auf wahren Ereignissen

Noch interessanter als die Geschichte selbst ist ihr Hintergrund: Wie Gilman in ihrem kurzen Nachwort erläutert, litt sie nach der Geburt ihrer Tochter an einer Depression. Ihr erging es wie ihrer Protagonistin. Unter anderem durfte sie sich auf Anraten des Arztes keiner kreativen oder wissenschaftlichen Tätigkeit widmen. Natürlich verschlechterte sich ihr Zustand. Besserung trat erst ein, als sie alle Ratschläge ignorierte und körperliche und geistige Tätigkeiten wieder aufnahm.

Tatsächlich hatte die Erzählung handfeste Auswirkungen: So nahm ihr damaliger Arzt nach der Lektüre Abstand von seiner Behandlungsmethode. Damit hat eine Horrorgeschichte ausnahmsweise nicht ihre Leser in den Wahnsinn getrieben, sondern sie sogar davor gerettet.

Feministische Utopie

Die 1915 ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte im Magazin The Forerunner erschienene Novelle Herland schlägt eine ganz andere Richtung ein.

Drei Männer, darunter ein Frauenrechtler, ein Macho und unser Erzähler, stoßen auf einer Forschungsreise auf Herland. Einen abgeschiedenen Landstrich, der seit Jahrtausenden ausschließlich von Frauen bevölkert wird. Unser Protagonist schildert aus der Rückschau von der ersten Begegnung bis zum nicht ganz freiwilligen Abschied den Aufenthalt in diesem außergewöhnlichen Land.

Inhaltlich stark, stilistisch solide

Weite Teile der Erzählung bestehen daraus, dass Gilman die Überlegenheit einer nur von Frauen geprägten Gesellschaft schildert. Sie widmet sich einem breiten Spektrum an Themen – etwa der Bedeutung von Geschlechtern im Allgemeinen, der Kindererziehung oder (sehr kritisch) der Bedeutung und dem Einfluss von Religionen.

Aus Lesersicht hat die Geschichte durchaus ihren Reiz. Insbesondere dann, wenn die überlegenen kulturellen Errungenschaften der Frauen auf die Vorurteile der Männerwelt treffen, ergeben sich unterhaltsame und humorvolle Szenen. So gerät unsere Männergruppe so manches Mal in Erklärungsnot, wenn sie mit den Problemen einer von Männern dominierten Gesellschaft konfrontiert wird.

Bedauerlicherweise fehlt es an einer richtigen Spannungskurve. Im Grunde stellt Gilman nur Thesen auf, die von den Männern nicht widerlegt werden können und widmet sich dann dem nächsten Thema. Inhaltlich mag dies interessant sein, aber auf wirkliche Spannung oder einen Plot müssen wir dafür verzichten.

Was bleibt?

Bei Die gelbe Tapete und Herland von Charlotte Perkins Gilman handelt es sich um Klassiker der feministischen Literatur. Nicht nur, dass sie inhaltlich nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Auch handwerklich handelt es sich um solide bis großartige Geschichten. Wer sich also zumindest ansatzweise für die Themen Klassiker, Phantastik und Feminismus interessiert und gleichzeitig unterhaltsame Geschichten lesen möchte, ist hier goldrichtig.

Preiswertes Hardcover

Die deutsche Ausgabe aus dem Anaconda Verlag erfüllt die Erwartungen, die man an ein gewöhnliches Hardcover stellen kann. Handwerklich bekommt man ein solide verarbeitetes Produkt, das vor allem durch den günstigen Preis überzeugen kann.  Ein Leseband oder gar eine Fadenheftung darf man natürlich nicht erwarten. Dafür ist der Pappeinband stabil, das Papier lesetauglich und die Klebebindung übersteht auch mehrmaliges Lesen.

Zudem werden wir mit einem Nachwort der Autorin beglückt, in dem sie die Hintergründe ihrer Geschichten erläutert.

Die erste Geschichte wurde von einer Gruppe von Studierenden der Universität Bielefeld übersetzt. Qualitätsunterschiede zu professionellen Übersetzern können nicht festgestellt werden. Nicht zuletzt auch deswegen, weil mit Alexandra Berlina eine renommierte Übersetzerin die Leitung innehatte. Die zweite Übersetzung stammt von Sabine Wilhelm und wurde bereits in einer Buchausgabe aus dem Jahre 1980 verwendet.

Bibliographie

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Pro/Contra

Pro
  • Handwerklich gute bis meisterhafte Geschichten
  • Inhaltlich immer noch relevant
  • Moderne Übersetzungen
Contra
  • In Herland fehlt eine tragende Spannungskurve

Fazit


Die gelbe Tapete und Herland von Charlotte Perkins Gilman sind zwei unterhaltsame Geschichten, die sowohl inhaltlich als auch handwerklich heute noch überzeugen können.

autorin: Charlotte Perkins Gilman

Titel: Die gelbe Tapete & Herland

Seiten: 288

Erscheinungsdatum: 1892

Verlag: Anaconda Verlag

ISBN: 9783730612361

Übersetzer: s.o.

illustratoren: –

Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt

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