Drei Begegnungen
von Iwan Turgenjew
01.11.2024
- Klassiker
Iwan Turgenjew zählt zu den bedeutendsten russischen Schriftstellern und ist vor allem für seine kürzeren Erzählungen bekannt. In Drei Begegnungen liegt eine Auswahl seines Frühwerks vor.
Aufzeichnungen des russischen Lebens
Zu Beginn erwartet uns mit Drei Portraits eine düstere Familiengeschichte, die sich anhand der erwähnten Gemälde nachzeichnen lässt. In Petuschkow verliebt sich ein schusseliger und lebensfremder Kleinadliger unglücklich in eine einfache Bäckerin. Doch weder erwidert sie seine Liebe, noch wäre eine solche Verbindung gesellschaftlich erwünscht…
Das Motiv der unerwiderten Liebe begegnet uns in Das Tagebuch eines überflüssigen Menschen wieder. Ein Mann verliebt sich in eine Frau, sie aber liebt einen anderen. Was bleibt da anderes übrig, als sich sehenden Auges ins Unglück zu stürzen?
Mumu lautet der Titel der tragischen Geschichte eines mit übermenschlichen Kräften gesegneten, aber taubstummen Hausdieners, der unter der Fuchtel einer launischen und cholerischen Herrin sein Glück sucht. Die Herberge wird von einem fleißigen Mann mit einigem Erfolg geführt. Doch die Affäre seiner Frau und die Gier seiner Gutsbesitzerin stürzen ihn ins Unglück.
Drei Begegnungen sind unserem Protagonisten mit einer verliebten Frau vergönnt – doch leider gilt diese Liebe nicht ihm. In Stilles Leben besucht ein junger Gutsbesitzer ein abgelegenes Dorf und stößt dabei auf eine Gruppe Landadliger. Doch das vermeintlich idyllische Landleben hat auch seine Schattenseiten…
In der vorletzten Geschichte Jakow Passynkow erinnert sich der Erzähler an einen besonderen Freund und breitet gleichzeitig ein Geflecht verworrener Liebesgeschichten vor uns aus. Und in der abschließenden Geschichte Faust verliebt sich eine Frau zeitgleich in einen Mann und in die Literatur – doch beide sollen sie ins Unglück stürzen.
Schreiben mit Nachhall
Der 1818 geborene Iwan Turgenjew wuchs in äußerst privilegierten Verhältnissen auf. Unter anderem durfte er einige Jahre in Berlin studieren – eine Zeit, die ihn nachhaltig prägen sollte. Versuchte er sich zunächst noch an lyrischen Werken, so gelang ihm 1852 mit seiner Kurzgeschichtensammlung „Aufzeichnungen eines Jägers“ der Durchbruch als Schriftsteller.
In ebenjener Sammlung – die erstaunlicherweise den Zensurbehörden entkam – positionierte er sich als Gegner der Leibeigenschaft und löste hitzige öffentliche Debatten aus. Dass die Leibeigenschaft 1861 abgeschafft wurde, ist sicherlich auch ihm zu verdanken.
Zahllose Schriftsteller drückten im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ihre Bewunderung für sein Werk aus. Dazu gehörten unter anderem (die Liste ließe sich beliebig fortsetzen) Dostojewski, Tolstoi, Hemingway, Henry James und Joseph Conrad. In Drei Begegnungen sind neun Erzählungen versammelt, die – so weit ich es überblicken kann – zwischen 1850 und 1856 erschienen sind und damit Turgenjews Frühwerk zugeordnet werden können.
Soziale Missstände und Liebe
Turgenjews Erzählungen lassen sich – eine äußerst grobe Betrachtungsweise – in zwei Kategorien unterteilen.
Zum einen finden wir Geschichten im Geiste der Aufzeichnungen eines Jägers, also solche, die soziale Missstände zum Gegenstand haben. Oftmals geht es um Klassenunterschiede und Machtgefälle, die von einer der Parteien hemmungslos ausgenutzt oder ausgelebt werden. Anhand von Einzelschicksalen werden uns dabei unerträglichen Ungerechtigkeiten vorgeführt. Die Geschichten haben dabei oftmals zunächst einen komischen bis heiteren Unterton, bis der Leserin dann das Lachen im Halse stecken bleibt.
Zum anderen haben wir es mit Liebesgeschichten im weitesten Sinne zu tun. Turgenjew ist bekannt dafür, als einer der ersten männlichen Schriftsteller überhaupt Frauen zu mehr als nur Objekten männlicher Begierde zu machen. Und tatsächlich finden wir einige starke Frauenfiguren, sei es als Hauptfigur oder als Gegenspielerin. Erstaunlich oft ist es sogar so, dass ein Mann einer Frau unglücklich hinterher schmachtet und nicht umgekehrt.
Eindrucksvolle Naturbeschreibungen
Handwerklich zeichnet sich Turgenjew durch eindrucksvolle Naturbeschreibungen und subtile Charakterisierungen aus.
Seine Geschichten spielen oftmals auf dem Land und wie kein Zweiter versteht er es, die russische Landschaft des 19. Jahrhunderts vor unseren Augen auferstehen zu lassen. Dazu bedient er sich äußerst langer und beinahe schon poetischer Satzstrukturen, die durchzogen sind von Metaphern und Vergleichen.
Diese wunderschönen Schilderungen stehen in einem harten Gegensatz zum erbarmungslosen Inhalt seiner Geschichten. Dankenswerterweise trennt er diese Beschreibungen klar von der eigentlichen Handlung – wir werden also nicht mitten im Handeln unserer Erzähler von ellenlangen Beschreibungen aus dem Geschehen gerissen.
Denn auch außerhalb dieser Beschreibungen erweist er sich als Könner, der durchaus auch mit wenigen Worten auszukommen vermag. Er versteht es, die Feinheiten zwischenmenschlicher Beziehungen anhand kleiner Gesten und Verhaltensweisen abzubilden und seine meisterhaften Dialoge verraten mit wenigen Worten mehr über das Innenleben seiner emotional oftmals zerrissenen Figuren als endlose Beschreibungen.
Für Abwechslung sorgen zudem noch die unterschiedlichen Erzählformen, sei es in Form von Briefen, Tagebüchern oder herkömmlichen Erzählarten.
Was bleibt?
Drei Begegnungen liefert einen hervorragenden Einblick in das Frühwerk des großartigen Schriftstellers Iwan Turgenjew. Thematisch haben wir es oft mit hartem Tobak zu tun, handwerklich können sowohl die eindrucksvollen Naturbeschreibungen als auch die subtilen Charakterisierungen überzeugen. Für Freunde der russischen Kurzgeschichte uneingeschränkt empfehlenswert!
Solide Ausgabe
Die mir vorliegende Ausgabe stammt aus dem Aufbau Verlag (1978) und stellt äußerlich ein solides Stück Handwerkskunst dar. Besonders erfreulich ist der Leineneinband mit Goldprägung. Dafür müssen wir aber auch auf ein Leseband oder sonstige Besonderheiten verzichten.
Der Anhang kann vor allem durch einen kurzen und hilfreichen Anmerkungsapparat überzeugen. Das Nachwort von Gerhard Dudek erweist sich hingegen als inhaltsloses Geschwafel eines verkopften Geisteswissenschaftlers und damit als reine Zeitverschwendung. Die Übersetzungen fertigten Dieter Pommerenke und Werner Creutziger an, zur Aufteilung verweise ich auf die untere Tabelle.
Bibliographie
Pro/Contra
Pro
- Wunderschöne Naturbeschreibungen
- Subtile Charakterisierungen
- Inhaltlich harter Tobak
Contra
- Sehr lange Naturbeschreibungen
Fazit
Drei Begegnungen eröffnet einen hervorragenden Einblick in das Frühwerk des großartigen Schriftstellers Iwan Turgenjew. Für Freunde der russischen Kurzgeschichte uneingeschränkt empfehlenswert!
autor: Iwan Turgenjew
Titel: Drei Begegnungen
Seiten: 477
Erscheinungsdatum: 1978 (s.o.)
Verlag: Aufbau Verlag
ISBN:
übersetzerIn: –
illustratorIn: –