Anna Karenina
von Lew Tolstoi
01.02.2021
- Klassiker
Der 1877 erschienene Roman Anna Karenina gehört neben Krieg und Frieden wohl zu Tolstois bekanntesten Werken und liefert dem Leser Einblicke in die Welt des russischen Adels Ende des 19 Jahrhunderts.
Zentrale Fragen beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven
Zwei Handlungsstränge durchziehen und prägen diesen Roman. Dazu gehört zum einen die Handlung um die titelgebende Anna Karenina. Diese ist unglücklich in ihrer Ehe mit dem gefühlskalten Bürokraten Alexej Alexandrowitsch und beginnt eine Affäre mit dem jungen Offizier Wronski. Beide scheinen zunächst ihr Glück gefunden zu haben, doch der gesellschaftliche Druck steigt, greift auch auf ihre Beziehung über und beginnt beide zu zerreißen. Ganz im Gegensatz dazu steht die gelingende Beziehung des Gutsbesitzers Lewin und seiner Frau Kitty, denen sich vielen existenziellen Fragen stellen und die auf dem Weg zu einer gelingenden Ehe viele Steine aus dem Weg räumen müssen.
Mehr als nur ein Liebesroman
Zu Beginn war ich skeptisch und hegte die Befürchtung, eine 1300 Seiten lange Liebesschnulze lesen zu müssen, doch mein anfängliches Misstrauen erwies sich als grundlos. Die Seiten flogen nur so dahin und selten zog mich eine Geschichte so in den Bann, wie es hier der Fall war.
Natürlich nehmen der von Anna begonnene Ehebruch und die Dreiecksbeziehung zwischen ihr, dem Offizier Wronski und ihrem Ehemann Alexej Alexandrowitsch einen nicht unerheblich großen Teil der Geschichte ein, bilden allerdings auch nur den Ausgangspunkt für eine Momentaufnahme der russischen Seele im späten 19. Jahrhundert. Anhand zahlreicher Charaktere und miteinander verwobenen Familien werden unzählige gesellschaftliche und familiäre Themengebiete behandelt und das auch oftmals mit einer ordentlichen Prise Ironie.
Eine Protagonistin, die niemanden kalt lässt
Anna Karenina ist sicherlich eine Figur mit vielen Schwächen, der man vieles vorwerfen kann. Sie betrügt ihren Mann, verlässt ihren Sohn, vernachlässigt ihre Tochter und verfällt auch aufgrund ihres hohen Opium Konsums mehr und mehr in Wahnvorstellungen. Doch das ist nur eine Seite an ihr. Tolstoi hegte ohne Zweifel große Sympathien für seine Anna und so steht der Leser auf ihrer und nicht auf der Seite ihres Ehemanns, der durch und durch Bürokrat und Kopfmensch ist.
Für ihn ist seine Frau nur ein notwendiges und schmückendes Beiwerk auf dem Weg zu einer großen Beamtenkarriere und für ihn ist die öffentliche Meinung über diese Affäre wichtiger als seine persönlichen Gefühle. Welcher Leser will es denn Anna verdenken, dass sie ihr Glück woanders sucht, zumal sich Wronski als aufopferungsvoller Liebender entpuppt, der bereit ist, alles für Anna aufzugeben. Zugrunde gehen beide letzten Endes an der Scheinheiligkeit der russischen Adelsschicht und am quasi nicht existierenden Scheidungsrecht.
Lewin als Gegenpol
Den Gegenpol dazu bildet der adlige Gutsbesitzer Konstantin Lewin. Als Ehemann muss er mit seiner Frau Kitty eine Reihe von Problemen überwinden, die oft von vermeintlich einfacher Natur sind, die aber dennoch für das Gelingen einer guten Ehe wichtig sind. Die Eckpfeiler dabei bilden Eigenschaften wie Kompromissfähigkeit und Vertrauen, die sie im Gegensatz zu Anna und Wronski besitzen und auch über längere Zeit bewahren können. Dies befähigt sie dazu als praktisch einzige Familie im Roman glücklich und stabil zu werden.
Als Gutsbesitzer ist Lewin auch Zeuge und Leidtragender der langsamen Industrialisierung Russlands. Der Roman beginnt 1872, also gut elf Jahre nach dem offiziellen Ende der Leibeigenschaft. Nur noch wenige Bauern können sich selber versorgen und sind dazu gezwungen, entweder auf Wanderschaft zu gehen oder sich in anderen Industriezweigen zu verdingen. Nicht als einziger Gutsbesitzer spürt Lewin nicht zuletzt finanziell, dass diese Entwicklung nicht weitergehen darf.
Aus einem privilegierten Standpunkt heraus versucht er mehr Schlecht als Recht immer wieder die Perspektive der Bauern einzunehmen und zu verstehen. Eine wichtige Rolle bei der Beseitigung der Probleme spielt dabei auch die Bildung, der auch Tolstoi eine große Bedeutung beimaß. Er selber ließ als Gutsbesitzer Schulen errichten und verfasste mit zunächst mäßigem und dann großen Erfolg einige Lehrbücher. Tolstois Ansichten müssen in seinen Kreisen sicherlich progressiv gewesen sein, aber mit dem heutigen Menschenbild wirken seine Ansichten mehr als veraltet.
Lewin wird auch von den großen philosophisches Fragen nach dem Leben und Tod getrieben und das auch durchaus unterhaltsam und ohne die Handlung aufzuhalten, auch wenn die Lösung Tolstois auf diese Fragen am Ende nicht überzeugen kann und etwas zu bemüht scheint, einen Kontrast zu Annas Handlungsstrang zu bilden.
Kritik am aufgeblähten Staatsapparat
Eine Reihe von vielen weiteren Figuren, die mehr oder weniger stark mit den beiden Haupthandlungsstränge verbunden sind, weiten den Blick auf die russische Gesellschaft und auf Themen, die Tolstoi sehr beschäftigt haben müssen. So spart Tolstoi nicht an Kritik am aufgeblähten und kostspieligen Staatsapparat und der immer noch sehr verbreiteten Vetternwirtschaft, die dazu führt, dass jede Menge sinnloser Posten geschaffen werden und viele Debatten letzten Endes nur viel Lärm um nichts sind.
Die Profiteure dieser Situation, wie etwa Annas Bruder Stephan Arkadjitsch, verbringen ihr Leben mit kurzweiligen Affären und inhaltslosen Salonabenden. Er steht stellvertretend für eine ganze Generation von Adeligen, die im Überfluss leben und immer mehr Schulden aufnehmen müssen, um ihren Lebensstil bewahren zu können.
Kontroverse Passagen eines genialen Schriftstellers
Für Aufsehen sorgte auch Tolstois Kritik am Serbisch-Osmanischen Krieg im achten Teil. Im Zuge dessen stürzten sich über 4000 Russen in den Krieg, ohne das es eine offizielle Kriegserklärung seitens Russlands gegeben hätte. Tolstoi weist auf die Fragwürdigkeit eines solchen Vorgehens hin und stellt die Freiwilligen in einem sehr schlechten Licht dar.
Für ihn sind diese Freiwilligen Glücksritter, Menschen ohne Perspektive und keine Helden. Dies veranlasste seinen Redakteur Kathow, einem Kriegsbefürworter, dazu den ganzen achten Teil nur sehr stark gekürzt herauszugeben, ein Umstand den Tolstoi sehr aufbrachte und der erst durch eine eigene Veröffentlichung korrigiert werden konnte.
Tolstoi selber schafft es in seiner knappen Sprache, aber immer mit einem Auge für notwendige Details, den Leser in den Bann zu ziehen. Als Leser wird man förmlich in die Geschichte gezogen, unvergessen bleibt die Sogwirkung unzähliger Szenen, beispielsweise die Stunden vor der Geburt von Lewins Sohn, der Tod seines Bruders Nikolai Lewin oder auch die zahlreichen Ausflüge Alexej Karenins in die Tiefen des russischen Staatsapparat.
Die richtige Aufmachung für einen Klassiker
Rosemarie Tietze übersetzte das Werk 2005 neu und hat es geschafft, diesen Text überraschend modern und gut lesbar zu machen. Da ich des Russischen nicht mächtig bin und auch keine der vorherigen Übersetzungen besitze, kann ich keinen direkten Vergleich ziehen, doch sowohl Presse als auch Leser sind begeistert von ihrer Übersetzung.
Abgerundet wird das Leseerlebnis mit einem interessanten Nachwort zur Entstehungsgeschichte dieses Romans, interessanten und hilfreichen Anmerkungen und wie immer vom Hanser Verlag mit einer hervorragenden Ausstattung, die einen feinen Leineneinband, Titelschild mit Goldprägung, Lesebändchen, Fadenheftung und Dünndruckpapier umfasst.
Pro/Contra
Pro
- Weltliteratur, muss man gelesen haben
Contra
- –
Fazit
Anna Karenina hat mich sehr überrascht und gehört zu den ganz großen Werken der Weltliteratur. Es hat bis heute nichts von seiner Strahlkraft und seiner Sogwirkung verloren und bietet tiefe Einblicke in die russische Seele. Die Übersetzung von Rosemarie Tietze lädt dazu ein, diesen Roman (neu) zu entdecken!
autor: Lew Tolstoi
Titel: Anna Karenina
Seiten: 1238
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Hanser Verlag
ISBN: 9783446234093
übersetzerin: Rosemarie Tietze
illustrator: –
Ich finde es schön und einfach erfrischend wie klar und unmissverständlich Dein Fazit ist!
Nicht sollte, nicht könnte, kein vielleicht oder sonstige Weichmacher.
Klar und deutlich – „Muss“. Mehr gibt es hier bist zur tatsächlichen Lektüre wohl kaum zu sagen.
Vor wenigen Wochen besuchte ich ein Buchhandlung. Sie ist klein und gefüllt mit Regalen, die bis zur Decke reichen. Eines dieser Regale ist scheinbar ausschließlich für Ausgaben der Anderen Bibliothek vorgesehen. Dieser Anblick alleine ist atemberaubend. Ich bleibe im Eingang stehen und blicke mich um. Ein älterer Mann sieht mich, blickt kurz auf und widmet sich wieder seiner Tätigkeit. Hierbei handelt es sich sich um den Inhaber, wie ich später erfahren werde. Ich bin in Kauflaune und greife beherzt zu „Das Land der Jungen“ von Denes Krusovszky. Dann frage ich nach Klassikern des Hanser Verlags. Der Mann grinst und greift gekonnt nach einer meinen Augen verborgenen Ausgabe von „Madame Bovary“ direkt vor mir im Regal. Ich schmunzle und sage, dass ich mir dieses Werk für später aufheben will. Ich suche eine Ergänzung, etwas Frisches, vielleicht etwas Unterhaltsames mit Ambitionen Weltliteratur sein zu können. Gierig und mit dem Gedanken mein Bücherregal zuhause weiter zu füllen, frage ich nach „Oblomow“ und „Eine Gewöhnliche Geschichte“. Ich habe beide gehört und kenne die Geschichten, doch die Ausgaben aus der Hanser Reihe fehlen mir noch. Die Augen des Mannes funkeln, er verfällt in eine Mischung aus Lachen und Sprechen und erzählt beherzt über Gontscharow und warum er damals wie heute so wichtig und aktuell ist. Dann reicht er mir ein schmales, broschiertes Büchlein mit dem Titel „Die Schwere Not“ – Iwan Gontscharow. Ich wiege es in meiner Hand, streiche über die strukturierte Vorderseite und werde es nicht mehr hergeben. Ich grinse übers ganze Gesicht. Auch meine Begleiterin lächelt. Glücklich und voller Vorfreude verlassen wir die Buchhandlung und gehen Eis essen.
Das was ich eigentlich nur sagen wollte, ich liebe die russische Literatur und kann Dir, Lieber Eugen, diese kleine feine Geschichte aus der Friedenauer Presse nur ausdrücklich empfehlen.
So, ich denke es ist Zeit für die Sommergeschichten von Tschechow und Djamila von Aitmatow. Wo ich diese Anregungen wohl herhabe…😉
LG Knallebutzen
PS: „Das Land der Jungen“, insbesondere die Geschichte „Unbekannter Himmel“ hat es in sich! Über die Ausstattung des Buches müssen wir glaube ich nicht sprechen. Besser wird’s wohl nicht mehr.
Hallo Knallebutzen,
Vielen Dank für deine lobenden Worte und vor allem für das Teilen dieser kleinen Geschichte – sehr pointiert und gleichzeitig sehr bildhaft!
Diese Buchhandlung hört sich auch sehr verlockend an – meine Stammbuchhandlung hat idR „nur“ ein Regalbrett der Anderen Bibliothek vorrätig und bereits dieses Regalbrett wirkt sehr eindrucksvoll.
Danke auch für die Empfehlungen, ich werde beide Bücher auf meine Liste aufnehmen. Den „neuen“ Gontscharow hätte ich ansonsten tatsächlich übersehen – der muss mir beim Sichten der Verlagskataloge durchgerutscht sein!
Und viel Spaß beim Lesen der zwei Bände, da kann man ganz sicher nichts falsch machen 🙂
Liebe Grüße,
Eugen