
Die unerhörte Reise der Familie Lawson
von T. J. Klune
10.06.2023
- Phantastik
Mit Die unerhörte Reise der Familie Lawson legt T. J. Klune einen neuen Roman vor. Kann er mit seinem neusten Werk die Massen genauso begeistern wie mit seinen vorherigen Werken?
Eine ungewöhnliche Familie
Die Lawsons entsprechen wirklich nicht dem Bild einer klassischen Familie: Giovanni Lawson ist nicht nur Vater, Oberhaupt, und ein genialer Erfinder, sondern zufällig auch ein Roboter. Bei seinem Sohn Victor, einem jedenfalls engagierten Entwickler, handelt es sich hingegen um einen waschechten Menschen.
Ergänzt werden die beiden durch den neurotisch-aufgedrehten Staubsaugerroboter Rambo und die gewaltbereite Krankenschwesterandroidin Schwester Grob. Weitestgehend abgeschottet von der Außenwelt fristen sie ein wenig ereignisreiches, aber glückliches Dasein.
Doch ihr idyllisches Leben findet ein jähes Ende: Victor entdeckt auf dem Schrottplatz den defekten Kampfandroiden Tom und entschließt sich dazu, ihn zu reparieren. Das Unterfangen gelingt. Jedoch setzt er damit eine Reihe von Ereignissen in Gang, die den Fortbestand der Familie Lawson gefährden…
Der Shootingstar der Phantastik
Wer sich in den vergangenen Jahren mit aktueller phantastischer Literatur beschäftigt hat, der wird zwangsläufig über den Namen Klune gestolpert sein – und sei es nur wegen der äußerst gelungenen Titelbilder. Der Name steht für eine neue Strömung, die auch und gerade unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen eine Stimme verschaffen will.
Literatur mit Herz
Es braucht auch nicht viel Zeit, um zu verstehen, warum dem Autor so ein schneller Aufstieg gelungen ist: Klune versucht, den Leser auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Und – so viel sei verraten – zumindest auf dieser Ebene gelingt ihm dies zu weiten Teilen. So nimmt er sich von Anfang an viel Zeit und baut seine Geschichte äußerst behutsam auf. Auf diese Weise erhalten wir die Gelegenheit, die Familie Lawson mit all ihren Macken und liebenswerten Eigenheiten kennen (und lieben) zu lernen.
Es vergehen gut und gerne 200 Seiten, bis sich so etwas wie ein Plot herauskristallisiert. Als Leser bekommen wir dies kaum mit, da durch die Dialoglastigkeit der Erzählung ein hohes Erzähltempo vorgelegt wird und die verlängerte Einleitung wie im Fluge vergeht. Zudem ist der Plot ohnehin nicht stark genug, um einen ganzen Roman zu tragen. Erst durch das Interesse am Schicksal der Familie Lawson können wir die stromlinienförmige Handlung akzeptieren.
Liebevolle Figuren
Die Hauptperson bildet mit Victor eine der wenigen Figuren, die keine Maschine im weitesten Sinne ist. Victor wäre in jeder normalen Erzählung die Idealbesetzung des klassischen Außenseiters (asexuell, introvertiert, begabter Erfinder und Techniker). Da er sich jedoch in einem Umfeld befindet, das ihn bedingungslos akzeptiert, kommen diese Eigenschaften (viel wichtiger: die damit verbundenen Konflikte) nicht so zur Geltung, wie man es erwarten würde.
Dies lässt ihn gerade zu Beginn blass und konturlos wirken. Doch keine Sorge: Die Handlung hält einige Überraschungen bereit, die ihn letztlich noch zum Anker der Erzählung machen.
Die heimlichen Stars der Erzählung sind ohnehin zwei Nebenfiguren: Der quenglige und quasselige Staubsaugerroboter Rambo und die abgeklärte Schwester Grob bilden ein kongeniales Duo. Während Rambo die Truppe mit seiner grenzenlosen Naivität an den Rand der Verzweiflung bringt, ist Schwester Grob nicht gerade die Krankenschwester unseres Vertrauens. Ihre ehemals freundliche Programmierung hat sie längst überwunden. Und durch viel schwarzen Humor und eine leicht sadistische Ader ersetzt (Eichhörnchen!).
Unterhaltsame Dialoge
Wie es sich für jede Feel-Good-Story gehört, ist Humor ein wichtiger Bestandteil. So sorgen die Wortgefechte zwischen Rambo und Schwester Grob ob ihrer Schrägheit und Skurrilität für einige Lacher. Nett – mehr aber auch nicht – sind zudem die zahlreichen Hommagen an Pinocchio.
Überhaupt ist die Handlung trotz des dystopischen Settings von einer positiven Grundstimmung durchzogen. Die Frage, ob Roboter und Menschen gleichberechtigt nebeneinander existieren können, wird quasi nebenbei beantwortet (Ja). Sogar Liebesbeziehungen (nicht ausschließlich auf den körperlichen Akt bezogen) zwischen Menschen und Robotern scheinen kein aussichtsloses Unterfangen zu sein.
Insgesamt muss man die ersten zweihundert Seiten mit einem Grinsen lesen und kann sich an der Handlung und den schrägen und gleichzeitig liebevollen Charakteren erfreuen. Leider bleibt es nicht dabei.
Abnutzungseffekt
Selbst das gelungenste Element einer Erzählung sieht sich nach einiger Zeit einem gewissen Abnutzungseffekt ausgesetzt. So stellt es ein Problem dar, dass Klune gewisse Muster den ganzen Roman über auf exakt dieselbe Art und Weise abspult. Wenn etwa Schwester Grob und Rambo auf Seite 200 streiten, mag das noch unterhaltsam sein. Doch wenn sich der Streit bis Seite 400 beständig wiederholt, dann kann er nicht einmal mehr ein müdes Lächeln entlocken.
Auch die zu Beginn noch emotionale Bindung nutzt sich im Laufe der Zeit ab. War es zu Beginn noch unterhaltsam, eine so heterogene Truppe zu verfolgen, so betont der Autor diesen Umstand einfach zu oft und auf eine Weise, die nur noch oberlehrerhaft an billige Kalendersprüche erinnert.
Auf rationaler Ebene nicht überzeugend
Erschwerend kommt hinzu, dass einige Aspekte auf einer rationalen Ebene nicht überzeugen können. So wird betont, wie ungewöhnlich, weil menschlich, Gio und Tom seien. Während wir haufenweise anderen Robotern begegnen, über die man das Gleiche behaupten könnte. Man denke nur an Rambo und Grob, aber auch den Kutscher oder die Blaue Fee.
Auffällig ist zudem, dass sich der Schriftsteller darum bemüht, in einem kleineren Abschnitt geschlechtsneutrale Pronomen (xier) zu verwenden. Ich habe zum Thema Gendern keine abschließende Meinung, da mich bislang weder das eine, noch das andere Lager überzeugen konnte.
In diesem Einzelfall war die Verwendung für mich insgesamt abschreckend. Xier ist einfach kein Wort, das sich in einem Fließtext elegant verwenden lässt. Vermutlich hätte ich mich bei einem längeren Einsatz daran gewöhnt. Hier ging der Einsatz eindeutig zulasten von Sprachgefühl und Sprachschönheit.
Kein ehrlicher Roman
Im Nachwort bestätigt der Autor, dass er viel weiter gehen wollte, es am Ende aber nicht durfte/wollte. Auch wenn der Autor viele kritische Themen zumindest anschneidet: Man hat in der Tat das Gefühl, dass der Autor mit angezogener Handbremse schreibt und oft Kompromisse finden musste, die im Ergebnis unausgegoren wirken.
Was bleibt?
Die unerhörte Reise der Familie Lawson von T. J. Klune ist ein Buch, das mich zwiegespalten zurücklässt. Zwar verstehe ich, warum der Autor zu so einem beliebten Schriftsteller avanciert ist. Er versteht es, eine herzerwärmende Geschichte und liebevolle Charaktere zu konstruieren, die zudem durch Wortwitz und Situationskomik überzeugen kann. Betrachtet man die Geschichte hingegen aus einer rationalen Perspektive, so fallen einem rasch die sich wiederholenden Muster und kleinen Unstimmigkeiten auf – aber vermutlich sollte man ein Herzensbuch sowieso nicht mit dem Verstand lesen.
Die Bewertung hängt letztlich davon ab, ob man ein eher rationaler oder emotionaler Leser ist. Oder ob man die andere Seite ausschalten kann. Auf der emotionalen Ebene handelt es sich um eine unterhaltsame Feel-Good-Story mit klassischen Botschaften in einem ungewöhnlichen Setting, die perfekt für den Sommer passt. Rational denkende Leser werden sich hingegen an einigen Ungereimtheiten stören.
Handelsübliches Paperback – wunderschönes Cover
Die Ausgabe aus dem Heyne Verlag entspricht den Anforderungen, die man an ein Paperback stellen kann und muss. Zur Buchgestaltung kann man (fast) nur lobende Worte verlieren. T. J. Klunes Titelbilder waren schon immer Blickfänger und so ist es auch dieses Mal.
Bloß: Warum druckt man auf einem so schönen Cover einen Werbesticker, anstatt ihn einfach aufzukleben oder es gleich sein zu lassen? Eine aus bibliophiler Sicht mehr als unglückliche Entscheidung. Im Inneren hat man sich immerhin Mühe gegeben und die Kapitelanfänge optisch aufbereitet.
Die Übersetzung stammt von Michael Pfingstl und bietet kaum Anlass zur Kritik. Natürlich kann man Namensänderungen kritisch sehen. In diesem Fall bestand allerdings keine adäquate Möglichkeit, um die mit den Namen verbundenen Wortspiele beizubehalten. Daher ist es in Ordnung, wenn aus einem HAP ein TOM wird. Am Ende des Buches finden wir noch ein kurzes Nachwort.
Pro/Contra
Pro
- Herzerwärmende Geschichte
- Liebevolle Charaktere
Contra
- Viele Elemente wiederholen sich
- Kein Buch für den Verstand
Fazit
Die unerhörte Reise der Familie Lawson von T. J. Klune ist ein klassischer Roman in einem ungewöhnlichen Setting und kann vor allem auf einer emotionalen Ebene überzeugen! Zu rational denkende Leser sollten hingegen einen Bogen um das Buch machen.
autor: T. J. Klune
Titel: Die unerhörte Reise der Familie Lawson
Seiten: 476
Erscheinungsdatum: 2023
Verlag: Heyne Verlag
ISBN: 9783453321458
Übersetzer: Michael Pfingstl
illustratoren: –
Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt










Das Urteil „kein Buch für den Verstand“ mag zwar hart klingen, aber ich denke ich kann interpretieren in welche Richtung das geht. Gerade viele Wiederholungen und kalenderspruchartige Philosophien schrecken mich oft etwas ab. Schein Hectors Reise war mir zu einfach, geschweigedenn Das Café am Rande der Welt.
Ich bin hin- und hergerissen, obwohl mich eben doch einiges interessiert. Gerade der Umgang mit dem genderneutralen und dem Pronomen xier sowie auch die sehr gemischte Familie. Vermutlich wäre das für mich so ein „Risikobuch“, was ich dann lieber als Hörbuch höre. Vielen Dank für die ausführliche Rezension
Ich glaube als Hörbuch könnte der Roman tatsächlich besser funktionieren. Ich vermute allerdings, dass die von dir angesprochenen Aspekte auch dann nicht wesentlich „besser“ zur Geltung kommen. Aber mit dem richtigen Sprecher könnten zumindest die Wiederholungen erträglicher werden.
Ich bin auf jeden Fall auf deine Meinung gespannt 🙂