Stadt der Heiligen und Verrückten
von Jeff VanderMeer
27.08.2021
- Phantastik
Jeff VanderMeer gilt schon seit Jahrzehnten als einer der wagemutigsten und innovativsten Erzähler der phantastischen Literatur und erreichte spätestens mit der Southern-Reach Trilogie ein Weltpublikum. Als bibliophilen Leser wählte ich nicht zuletzt wegen der schönen äußeren Gestaltung die Stadt der Heiligen und Verrückten als erstes Werk dieses Schriftstellers aus.
Eine Stadt, die sich jeglicher Einordnung und Beschreibung widersetzt
Die Stadt der Heiligen und Verrückten entzieht sich jeder Beschreibung und Zuordnung, zu vielfältig und vielschichtig ist dieses Werk. Im Mittelpunkt steht die fiktive Stadt Ambra. Ambra ist ein Moloch, Heimat zahlreicher Völker und Religionen, erbaut auf Blut und Unterdrückung, gefangen in den Spannungen von Lust und Gewalt. Das Buch selbst lässt sich in zwei Abschnitte teilen. Der erste Teil umfasst dabei vier längere Kurzgeschichten.
Die erste Geschichte Dradin, verliebt handelt von einem Missionar, der nach einer gescheiterten Mission Ambra besucht und sich augenblicklich in eine wunderschöne Frau verliebt, die sehnsüchtig aus einem Fenster blickt. Bei seinem Versuch, ihr näher zu kommen, verschwimmen schon bald Realität, Erinnerungen und Fieberträume zu einer tödlichen Gefahr. Die zweite Geschichte Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra erweist sich als pseudohistorische Abhandlung über die Geschichte Ambras und vermischt den bissigen Humor eines Historikers mit ausufernden Fußnoten.
Ist das Kunst oder kann das weg?
Die Verwandlung des Martin See ist hingegen wieder eine klassische Geschichte und handelt von dem erfolglosen Künstler Martin See, der unerwartet eine Einladung zu einer Enthauptung erhält, die entscheidenden Einfluss auf sein Schaffen haben soll. Hier nimmt VanderMeer einerseits den Kunstbetrieb aufs Korn, baut andererseits auch Elemente klassischer Schauergeschichten ein.
In der letzten Kurzgeschichte Der seltsame Fall von X verschwimmen Realität und Fiktion. Wir begleiten einen Psychiater bei der Vernehmung eines Patienten, der behauptet, Ambra selber erschaffen und nun die Kontrolle darüber verloren zu haben. Der zweite – weitaus umfangreichere Teil – umfasst zahlreiche Kurzgeschichten, Briefe, Flugblätter und pseudohistorische- und wissenschaftliche Texte, unter anderem eine 50-seitige Abhandlung über den Königskalmar, die allseits beliebte Buchreihe der Folterkalmare („Die Folterkalmare mischen ein paar Priester auf“) oder auch ein umfangreiches Glossar über Ambra.
Wie eingangs erwähnt, entzieht sich das Buch jeglicher Ein- oder Zuordnung. Man kann sich die Stadt der Heiligen und Verrückten am ehesten noch als Collagen Roman vorstellen, bei dem verschiedenste Textarten, Bruchstücke und Illustrationen ein großes Ganzes bilden und unterschiedlichste Aspekte der Stadt ausleuchten. Die Texte können dabei in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. VanderMeers Erzählstil kann man am als barock-schwulstig bezeichnen, wenn es die Textform jedoch nötig macht, dann weicht er zumindest ein wenig davon ab. Dieser Erzählstil ist oft anstrengend, passt aber insgesamt zu den Geschichten und dem Gesamtwerk.
Nur die erste Hälfte kann überzeugen
VanderMeers Geschichten muss man deshalb auch immer mit voller Aufmerksamkeit und Konzentration lesen, als Abendlektüre sind die Geschichten nur bedingt geeignet. Letzten Endes kann nur der erste Teil des Buches überzeugen, der zweite Teil mag künstlerisch wertvoll und handwerklich gut gemacht sein, bietet aber mit wenigen Ausnahmen nur wenig überzeugendes.
Viele Texte im zweiten Teil sind einfach nur anstrengend und spätestens nach fünfzig eng bedruckten Seiten über Königskalmare stellt sich die Frage, ob man seine Lesezeit sinnvoll investiert hat. Am zugänglichsten und unterhaltsamsten sind dabei noch Dradin, verliebt und Die Verwandlung des Martin See, für die VanderMeer 2002 auch mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde.
Liebevolle innere Gestaltung
Die Stadt der Heiligen und Verrückten kann vor allem mit äußeren Werten überzeugen. Das beginnt mit der auf dem Schutzumschlag abgedruckten Kurzgeschichte und geht weiter mit dem wirklich schön gestalteten Inhalt. Jede Geschichte weißt eine unterschiedliche Typografie auf und die zahlreichen Illustrationen wurden eigens für diesen Band angefertigt. Bei einer so aufwendigen Buchgestaltung ist es wieder einmal schade, dass es sich beim Buchumschlag nur um einen normalen, geklebten Pappband ohne Lesebändchen handelt, auch wenn dieser gut verarbeitet wurde – meine Ausgabe aus dem Jahre 2005 befindet sich noch in einem relativ guten Zustand.
Bibliographie
Pro/Contra
Pro
- einige Geschichten bewegen sich auf hohem Niveau
- außergewöhnliche Buchgestaltung
Contra
- die zweite Hälfte ist mehr als nur experimentell
Fazit
Die Lektüre der Stadt der Heiligen und Verrückten hinterlässt bei mir gemischte Gefühle. Einige Geschichten sind wirklich großartig, viele jedoch nur sehr schwer zugänglich und nicht besonders interessant. Das Buch ist mehr Kunstwerk als Literatur und wer unter diesem Gesichtspunkt Zugang dazu finden kann, dem wird dieses Buch sicherlich Freude bereiten, alle anderen sollten das Buch nach den ersten vier Geschichten beiseitelegen.
autor: Jeff VanderMeer
Titel: Stadt der Heiligen und Verrückten
Seiten: 480
Erscheinungsdatum: 2002
Verlag: Klett-Cotta Verlag
ISBN: 9783608937730
übersetzer: Erik Simon
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